Kein Blick zurueck
TEIL 1
Es war Edwin, der ein neues Haus bauen wollte. Ich hatte nichts gegen das alte im Queen-Anne-Stil an der Oak Park Avenue. Es war voller Gegenstände aus meiner Kindheit, und nach so vielen Jahren an anderen Orten empfand ich das als tröstlich. Doch Edwin war besessen von der Idee, etwas Modernes zu haben. Ich frage mich, ob er heute über diese Zeit nachdenkt – über die Tatsache, dass er es war, der unbedingt ein Haus haben wollte, das ganz und gar seines war.
Als wir im Herbst 1899 von unserer Hochzeitsreise zurückkehrten, zogen wir in das Haus, in dem ich aufgewachsen war, meinem verwitweten Vater zuliebe, der sich nie daran gewöhnt hatte, allein zu leben. Mit dreißig, nach Jahren des Studiums, des Alleinseins und der Unabhängigkeit, fand ich mich beim Abendessen nicht nur mit einem neuen Ehemann, sondern auch mit meinem Vater und meinen Schwestern, Jessie und Lizzie, wieder, die häufig zu Besuch kamen. Papa ging immer noch zur Arbeit und leitete die Reparaturwerkstätten der Chicago & North Western Eisenbahn.
Nicht lange nachdem Edwin und ich uns eingelebt hatten, kam mein Vater eines Tages von der Arbeit nach Hause, verkroch sich in seinem Bett und wechselte ins Jenseits. Mit zweiundsiebzig war er kein junger Mann mehr, doch meinen Schwestern und mir war er immer unbesiegbar vorgekommen. Ihn so plötzlich zu verlieren, ließ uns alle wie vor den Kopf geschlagen zurück. Was ich damals nicht wusste, war, dass das Schlimmste uns erst noch bevorstand. Ein Jahr später starb Jessie bei der Geburt eines kleinen Mädchens.
Wie kann ich die Trauer jenes Jahres beschreiben? Ich erinnere mich nur teilweise an das Jahr 1901, so betäubt bewegte ich michdurch es hindurch. Als klar wurde, dass Jessies Mann es kaum schaffen würde, ordentlich für das Baby zu sorgen, das er nach meiner Schwester getauft hatte, nahmen Ed und Lizzie und ich unsere Nichte bei uns auf. Ich war die Einzige, die nicht arbeitete, deshalb lag ihre Versorgung bei mir. Ungeachtet all unserer Trauer brachte das Baby unerwartete Freude in das alte Gemäuer.
Das Haus steckte voller Erinnerungen, die mich sonst verfolgt hätten, vermute ich. Aber ich hatte alle Hände voll zu tun. Im Laufe eines Jahres bekamen Ed und ich ein eigenes Kind, John, der früh laufen lernte. Wir hatten damals kein Kindermädchen und nur für ein paar Stunden am Tag eine Haushälterin. Nachts war ich zu erschöpft, um ein Buch in die Hand zu nehmen.
Dennoch war es in den drei Jahren, die ich bis dahin verheiratet war, nicht sonderlich schwer, Mrs. Edwin Cheney zu sein. Ed war lieb und beklagte sich selten – für ihn eine Frage des Stolzes. Anfangs fand er beinahe jeden Tag beim Nachhausekommen ein Wohnzimmer voller Borthwick-Frauen vor, und er schien sich tatsächlich darüber zu freuen, uns alle zu sehen. Edwin ist kein besonders kultivierter Mann, und seine Zufriedenheit bezieht er aus einfachen Dingen – kubanischen Zigarren, der morgendlichen Straßenbahnfahrt in Gesellschaft anderer Männer, dem Herumbasteln an seinem Automobil.
Das Einzige, was Ed nicht ertragen konnte, war Unordnung, und die Jahre an der Oak Park Avenue müssen ihn auf eine harte Probe gestellt haben. Maßstab sind für ihn die Ablageflächen der Möbel: seine Papiere, die ihn morgens ordentlich sortiert auf seinem Schreibtisch erwarten; sein Schrank, in dem er seine Aktentasche und seine Schlüssel verstaut, wenn er nach Hause kommt; der Abendbrottisch, auf dem er am liebsten einen Braten vorfindet und darum herum seine Liebsten, die sich dort versammelt haben und auf ihn warten.
Ich schätze, es ging um Ordnung oder mangelnde Ordnung, die ihn schließlich bewog, nicht nur von einem neuen Haus zu sprechen,sondern darüber hinaus auch etwas zu unternehmen. Ich versuchte, alles adrett zu halten, aber was lässt sich schon ausrichten in einem dunklen alten Haus, wo die Fenster mit Farbe verklebt und die Ecken jedes einzelnen Türsturzes mit Schnitzereien und Schnörkeln überladen sind? Was lässt sich ausrichten bei rosshaargepolsterten Möbeln, auf denen sich zwei Jahrzehnte alter Staub angesammelt hat, der sich einfach nicht ausklopfen lässt?
Was Edwin tat, er startete in aller Ruhe seine Kampagne. Zuerst nahm er mich mit in das Haus von Arthur Huertley und dessen Frau. Er und Arthur fuhren morgens gemeinsam mit der Straßenbahn. So gut wie jedermann auf der Oak Park Avenue hatte es sich inzwischen angelegen sein lassen, einmal am neuen Haus der Huertleys an der Forest Avenue
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