Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
die EU-Politik. 8 Mehr als die Hälfte davon sind nicht offiziell registriert. Doch ob es um Umweltpolitik oder Energiepolitik geht, um Konsumentenschutz
oder Agrarpolitik - die Lobbys sind wesentlich mächtiger als die Wähler.
Der zähflüssige Bernstein schlechter Gewohnheiten konserviert vieles, aber er legitimiert es nicht. Und die unseligen Gebräuche, die sich inzwischen überall in der westlichen Welt ziemlich schamlos verbreitet haben, setzen nicht ihre Fortsetzung ins Recht. Doch wie lange lassen sich die Bürger das Gleiche gefallen wie die Passagiere des Dampfers den Verlust der Liegestühle? »Überall müssen sich Autorität und Tradition die Frage nach der Rechtfertigung gefallen lassen. Weder die christlichen Kirchen mit ihren Glaubensaussagen und Ordnungen noch der Staat mit seinen verfassungsmäßigen Organen wie etwa den Parlamenten, noch Sitte und Moral als solche … sind heute von bohrenden kritischen Fragen ausgenommen. Nicht weniger, sondern mehr Demokratie - das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben.« 9 Der das sagte, war ein großer Bundespräsident: Gustav Heinemann. Seine Worte gelten noch immer und wieder neu.
Die Entfremdung von Politik und Bürgern ist heute größer als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Die neoliberale Welle hat auch die Politik geschwächt. Aus unserer Demokratie ist weitgehend ein Demokratie-Theater geworden und offenbart Parteien ohne Gestaltungskraft. Doch diese Lethargie und Phantasielosigkeit, die keine neue Politik wagt, die Selbstbezüglichkeit der Parteien und der Lobbyismus zehren die Moral auf, die unser politisches System trägt und stabilisiert.
Wenn dies aber alles richtig sein sollte - was kann man dann konkret tun? Gibt es Möglichkeiten zur Fehlerkorrektur? Ist unsere Demokratie überhaupt noch zu retten?
• Die Konkordanz der Bürger. Wie die Demokratie reformiert werden könnte
Die Konkordanz der Bürger
Wie die Demokratie reformiert werden könnte
Berlin. Regierungsviertel. Im August 2010. Auf der Wiese vor dem Reichstag spielen Migrantenkinder Fußball, Journalisten lümmeln sich auf Liegestühlen im Sand, am Spreebogen dösende Rucksacktouristen im Schatten des Kanzleramtes, neugierige Passanten inspizieren den Garten des Schlosses Bellevue. Eine Allegorie der Ruhe und des Friedens; das Idealbild einer blühenden Zeit.
Alles gut im Staate Deutschland? »Es könnte durchaus sein«, schreiben Leggewie und Welzer, »dass Historiker in hundert Jahren den Beginn des Untergangs der Demokratien und die Abwicklung des Kapitalismus auf 1989 datieren und die weltweite Finanzkrise nur 19 Jahre später als die nächste Stufe auf dem lange zuvor eingeläuteten Abstieg deuten. Jedenfalls zeigt sich, dass Stabilitätserwartungen etwa an das System der Bundesrepublik nicht schon dadurch gerechtfertigt sind, dass es sechzig Jahre gutgegangen ist.« 1
Was wie eine ruhige und zufriedene Zeit aussieht, ist vermutlich der Beginn des größten Umbruchs in der jüngsten Geschichte. Das Land hat die mutmaßlichen Grenzen seiner wirtschaftlichen Expansion erreicht. Sparzwänge und Verteilungskämpfe nie gekannten Ausmaßes werden das Klima in der Bundesrepublik verändern. Die Luft wird dünner, der Tonfall rauer. Die Wahlbeteiligungen sinken dramatisch, das Ansehen unserer Politiker ist auf einem Tiefstand. Unsere politische Führungskaste, versteckt hinter
den schönen neuen Märchenhecken des Regierungsviertels, wird immer weniger als Lösung betrachtet, sondern als das Problem.
Warum steuert niemand dagegen? Vieles, so scheint es, erklärt sich auch hier durch shifting baselines - die allmähliche Verflüchtigung von Realität beim Regieren: der Zug, der gefühlte hundert fährt, kurz bevor er aus der Kurve fliegt. Das Politiksystem, das fast nur noch die Zweckrationalität des Machterhaltes kennt, weil es sich selbst nicht mehr in ein wohlverstandenes Verhältnis setzt zu den Menschen, um die es geht. Die DDR ist an eben diesem Phänomen zugrunde gegangen: an der Torheit von Regierenden, die ihr Volk aus den Augen verloren.
Die Wachsamkeit, die bundesdeutsche Politik bis 1990 auszeichnete, ist dahin. Unsere Demokratie ist so selbstverständlich, dass sie nicht mehr reflektiert wird. Bei Glaubens- und Meinungsmonopolen, so schrieb John Stuart Mill im Jahr 1859, werde der Glaube oder die Meinung schnell zur nicht mehr gelebten Phrase: »Sowohl Lehrer wie Jünger
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