Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
ist die eines Malers, der die »Anmut und Schönheit« des menschlichen Handelns vor Augen führt. Diese Aufgabe fällt heute ins Ressort der Theologen und Moralphilosophen. Doch wie ein guter Maler die Anatomie des Menschen studiert, so muss sich der Philosoph heute auch in die Skizzen der Hirnforscher, Evolutionsbiologen, Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen vertiefen. Denn das Studium unserer Natur sollte uns nicht nur etwas über unsere guten Absichten sagen. Sondern auch dazu, warum wir uns so selten nach ihnen richten. Und vielleicht einen Hinweis darauf geben, was man dagegen tun kann.
Was der Mensch »von Natur aus« ist, ist nicht einfach zu sagen. Jede Erklärung kleidet sich in die Gewänder der Zeit, in der der Schneider ihrer Ideen lebt. Für einen Denker des Mittelalters, wie Thomas von Aquin, war die natura humana der eingehauchte Geist Gottes. Was Gut und Böse ist, wissen wir deshalb, weil Gott uns einen inneren Gerichtshof geschenkt hat - das Gewissen. Im 18. Jahrhundert änderte der Gerichtshof seinen Urheber. Was vorher das Werk Gottes sein sollte, war für die
Philosophen der Aufklärung die Leistung unserer Rationalität. Unsere klare Vernunft gäbe uns verbindlich Auskunft darüber, welche Grundsätze und Verhaltensweisen gut sind und welche schlecht. Nach Ansicht vieler Naturwissenschaftler der Gegenwart ist das »Gewissen« dagegen weder eine Sache Gottes noch eine Sache der Vernunft, sondern eine Versammlung biologisch uralter sozialer Instinkte.
Für Moral, so scheint es, sind heute zunehmend Biologen zuständig. Und es scheint erfolgreich, vielleicht allzu erfolgreich zu sein, was der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson bereits im Jahr 1975 einforderte: dass man die Ethik vorübergehend den Philosophen aus den Händen nehmen und »biologisieren« sollte. 3 Die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit, im Fernsehen, in Zeitungen und in Zeitschriften aller Couleur haben heute tatsächlich die Naturwissenschaftler. Selbstgewiss weisen sie darauf hin, »dass es schon vor der Kirche eine Moral gab, Handel vor dem Staat, Tausch vor Geld, Gesellschaftsverträge vor Hobbes, Wohlfahrt vor den Menschenrechten, Kultur vor Babylon, Gesellschaft vor Griechenland, Selbstinteresse vor Adam Smith und Gier vor dem Kapitalismus. All diese Aspekte sind Ausdruck der menschlichen Natur, und das seit dem tiefsten Pleistozän der Jäger und Sammler.« 4
Am Ursprung unserer Moralfähigkeit aus dem Tierreich besteht kein Zweifel. Die offene Frage ist allerdings, wie zielstrebig und sinnvoll sich unsere Moral biologisch und kulturell entwickelt hat. Ganz offensichtlich hatten unsere Gehirne im Lauf der Evolution eine unglaubliche Fülle an neuen Herausforderungen zu bewältigen. Und je klüger sie wurden, umso komplizierter, so scheint es, wurde die schwierige und unübersichtliche Frage der Moral. So wie wir zur Kooperation neigen, so neigen wir zu Misstrauen und Vorurteilen. Und so wie wir uns nach Frieden und Harmonie sehnen, so überkommen uns Aggressionen und Hass.
Die gleitende Logik der Moral, nach der die Philosophen zweitausend
Jahre suchten, wurde auch den Biologen bislang nicht offenbart. Allzu schnell hatten sie sich von Anfang an auf das Prinzip »Eigennutz« versteift. Nichts anderes als das Vorteilsstreben sei der vermeintliche Motor unseres Soziallebens. Und so wie der Eigennutz im Kapitalismus am Ende zum Wohl aller führen soll, so sollte auch der Eigennutz in der Natur den kooperativen Affen »Mensch« hervorbringen. Das ist leicht zu verstehen. Und bis vor einigen Jahren passte es auch gut in den Geist der Zeit. Doch das Bild, das viele Wissenschaftler noch in den 1980er und 1990er Jahren vom Menschen entwarfen, ist heute verblasst. Wo wir vor wenigen Jahren kühl kalkulierende Egoisten sein sollten, sind wir nach Ansicht zahlreicher Biologen, Psychologen und Verhaltensökonomen heute ein ziemlich nettes und kooperatives Wesen. Und unser Gehirn belohnt uns mit Freude, wenn wir Gutes tun.
Auch die Ansichten über den Einfluss der Gene auf unser Verhalten haben sich innerhalb des letzten Jahrzehnts dramatisch verändert. Doch die wichtigsten Annahmen über die Evolution der menschlichen Kultur sind nach wie vor spekulativ: ob bei der Entwicklung unseres Gehirns, dem Entstehen der Lautsprache, dem Zusammenhang zwischen unserer Sexualität und unserem Bindungsverhalten, dem Beginn der menschlichen Kooperation und Hilfsbereitschaft - nirgendwo stehen wir tatsächlich auf sicherem Boden.
Die
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