Die Kunst, nicht abzustumpfen
Forschungsinstituts Niedersachsen gaben mehr als ein Viertel der Schüler an, von Lehrern lächerlich
gemacht worden zu sein (Irle 2010, 12). Noch kaum abzusehen ist die Zahl derjenigen Schülerinnen und Schüler, die von Lehrern auch sexuell missbraucht wurden.
Beim Mobbing untereinander sind deutsche Schüler Weltspitze; verschiedene Untersuchungen kommen zum Ergebnis, dass jeder dritte bis siebte Schüler gemobbt wird (Deggerich 2006, 39; Jeder 2005, 9). Es ist kaum verwunderlich, dass sich diese unerträgliche Situation immer wieder in Gewalt (wie sie zum Beispiel an der Berliner Rütli-Schule bekannt wurde) entlädt und in Extremfällen in Amokläufen.
Von einigen Psychologen wird der Zusammenhang zwischen schulischen Kränkungen und Amokläufen durchaus benannt (Koch 2007); diese Überlegungen spielen aber in den politischen Konsequenzen auf die Amoktaten bisher so gut wie keine Rolle. Auch das mäßige Abschneiden deutscher Schüler in internationalen Vergleichen (wie z. B. PISA) hätte Anlass werden können, über die andauernde Misere des deutschen Schulsystems nachzudenken: Wie könnte Lehren und Lernen gelingen, solange die Schule für so viele der Beteiligten ein Ort der Entwürdigung ist? Nach wie vor werden jedoch die grundlegenden Probleme unserer Schulen weder thematisiert noch korrigiert:
Anstatt die Verletzungen der Würde von Schülern und Lehrern zu benennen, wird seit Jahren weitgehend nur über Zahlen, Ausstattungen, Lehrpläne und andere Randphänomene debattiert. Dabei bleibt schleierhaft, weshalb die Umstellung des Schulbetriebs auf Ganztagsschulen eine Lösung darstellen soll: Für die vielen Schüler, die die Schule als einen Ort des Grauens erleben, wird das Grauen dadurch nur noch verlängert.
Ebenso schleierhaft ist, weshalb »Milliarden für die Bildung« (wie die Presse am 18. 12. 2009 ankündigte) die deutsche Schule retten könnten – solange unklar bleibt, wofür diese Gelder ausgegeben werden sollen: für ein besser finanziertes
Grauen? Solange die zugrunde liegenden Probleme überhaupt nicht thematisiert werden, solange sind die Verlängerung der deutschen Schulmisere und weitere Gewalttaten vorprogrammiert.
Missachtungen der Würde sind auch in vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft zu beobachten. Zwar ist in den vergangenen Jahren vieles freundlicher geworden. Das Grundgesetz betont gleich in Artikel 1 die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Dieser Artikel ist großartig. Tatsächlich aber wird die Würde von Menschen in Deutschland tagtäglich verletzt. Etwa im Straßenverkehr, mit den allgegenwärtigen Gesten der Verachtung.
Eine französische Journalistin schrieb einmal: Wir nehmen den Deutschen nicht übel, dass , sondern wie sie Mercedes fahren. Missachtungen gehören so sehr zu unserer Kultur, dass wir diese oft gar nicht bemerken.
Etwa wenn alte Menschen mit Schrott verglichen werden, wie dies der damalige Bundesinnenminister Otto Schily tat – ohne dass dies von der öffentlichen Meinung kritisiert worden wäre. Wenn Arbeitslose als faule Schmarotzer und »Wohlstandsmüll« verachtet werden, wie dies durch die Hartz-IV-Gesetze suggeriert und durch viele Medien, große Teile der Öffentlichkeit und Politiker (aktuell: Guido Westerwelle) verbreitet wird. Wenn Ostdeutsche von Westdeutschen als zurückgebliebene »Ossies« verachtet werden. Oder wenn der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück die Schweiz mit Ouagadougou vergleicht.
Viele Menschen scheinen kein Bewusstsein dafür zu haben, wie sie durch ihr Verhalten die Würde anderer Menschen verletzen. Etwa der Vorgesetzte, der einen zynischen Witz auf Kosten eines Mitarbeiters macht und, darauf angesprochen, nur lachend abwinkt: »War doch nur ein Scherz, nicht so gemeint, nichts für ungut.« Der Hochschullehrer, der hinter den Kulissen die Arbeit eines Kollegen sabotiert. Oder die Hausfrau, die ungeprüft rufschädigende Gerüchte über Nachbarn
aufnimmt und weiterverbreitet: Sie alle würden entrüstet von sich weisen, dass sie sich an Mobbing beteiligen.
Darum dieses Buch: Sein erstes Anliegen ist es, auf einen spezifischen blinden Fleck in der deutschen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Ich möchte zeigen, dass viele unserer zwischenmenschlichen Beziehungen – gerade auch in Schule und Arbeitswelt – durch Verletzungen der Würde vergiftet werden.
Das zweite Anliegen des vorliegenden Buches ist es, Wege aufzuzeigen, wie wir zu einem Menschen-würdigenden Miteinander kommen
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