Die Lady in Weiß
Prolog
Portsmouth, England Mai 1787
Mit aufsteigender Panik blickte sich Caroline Harris im Spiegel an, als das Dienstmädchen ihrer Mutter die Schärpe um ihre Taille festzog. Gleich musste sie zu den Gentlemen in den Salon hinaus, und dann war es zu spät.
Warum, warum nur hatten sie niemals genügend Geld? „Ich kann das nicht tun, Mama“, flüsterte sie heiser. „Ich weiß, du meinst, wir hätten keine andere Wahl, aber ich kann es nicht. Ich kann es nicht. “
„Du kannst es, und du wirst es auch tun“, entgegnete ihre Mutter in dem gereizten Ton, den Caroline in den vergangenen zwei Wochen nur allzu gut kennengelernt hatte. „Du bist das Einzige, was mir noch geblieben ist, Mädchen, und ich möchte nicht als Bettlerin enden.“
Caroline nickte stumm. Wenn sie jetzt weinte, bekäme sie eine Ohrfeige. Diese Lektion hatte sie schnell gelernt. Und kein Gentleman würde sie haben wollen mit geröteten und tränenverquollenen Augen.
Aber welcher Gentleman würde sie überhaupt haben wollen, angezogen und herausgeputzt, wie sie war? Ihr geblümtes Seidenkleid war aus einem alten Kleid ihrer Mutter angefertigt worden. Es war so tief ausgeschnitten, dass ihre kleinen Brüste beinahe zur Gänze sichtbar waren; das zarte Rosa ihrer Brustwarzen schimmerte schamlos durch das gazeartige Fichu hindurch. Ihr Korsett war so fest geschnürt, dass sie kaum atmen konnte, und ihre Füße waren schmerzvoll in enge hochhackige Schuhe gezwängt, die ihr einen
verführerisch wiegenden Gang verleihen sollten.
Ihr Haar, normalerweise so glatt und weich wie Seide, war mit Zuckerwasser zu steifen, modischen Locken geformt worden, die sie nicht berühren durfte. Die Juwelen, die auf ihrer blassen Haut funkelten, waren so offensichtlich falsch wie ihre ganze übrige Erscheinung, und wenn sie ihr Gesicht betrachtete, das man mit hellem Puder und Rouge auf ihren Wangen in eine Maske verwandelt hatte, hätte sie am liebsten wieder geweint. Sie sah aus wie eine billige Puppe aus Wachs. Niemals würde irgendjemand so Gefallen an ihr finden.
Und nicht einmal ihre eigene Mutter hatte daran gedacht, dass heute ihr vierzehnter Geburtstag war ...
Miriam Harris packte ihre Tochter besitzergreifend am Arm, als sie ebenfalls in den Spiegel blickte. Die Ähnlichkeit der beiden zeigte sich in den hohen Wangenknochen und den weit auseinanderstehenden Augen. Aber das war auch alles. Die Schwindsucht, die bald schon Miriams Leben fordern würde, hatte ihr Gesicht unter dem gefärbten schwarzen Haar schmal und hager werden lassen, ihren Körper gebeugt und verbraucht. Und das ausschweifende Leben, das sie führte, hatte schon vor langer Zeit den unschuldigen Zauber und den Charme zerstört, der vom Antlitz ihrer Tochter ausging.
„Du bist viel zu mager, Caroline“, erklärte sie keuchend und hustete in das spitzenbesetzte Taschentuch, das sie immer bei sich trug. Schnell stopfte sie es in ihre Handtasche, aber Caroline hatte dennoch das leuchtendrote Blut auf dem weißen Stoff erkennen können. „Schau dich nur an, du bist einen halben Kopf größer als ich! Wenn dies das Ergebnis deines Lebens auf dem Lande ist, hätte ich mir all die Jahre das Geld für deine Erziehung dort sparen können! “
Heimweh überkam Caroline wie ein stechender Schmerz. Sie dachte zurück an Hampshire, an das Haus mit dem Strohdach, in dem sie bis letzten Monat noch gewohnt hatte, an die rotbackige Mrs Thompson, die sie wie eines ihrer eigenen Kinder umsorgt hatte, an Sonnenlicht und frische Milch, Äpfel und weite Felder und an die Kätzchen in der Scheune, mit denen man spielen konnte. Und sie erinnerte sich auch an die wunderbaren Träume, in denen sie sich immer wieder ihre Eltern vorgestellt hatte: ihren Vater als gutaussehenden Offizier in einer prächtigen Uniform, der bei der Verteidigung des Vaterlandes tragischerweise getötet worden war, noch bevor er ihre Mutter hatte heiraten können - ihre Mutter, die vornehme und wunderschöne Dame in London, die jeden Monat Geld für ihren Unterhalt schickte und, sobald es ihr die Umstände erlaubten, selbst kommen würde, um ihre Tochter abzuholen.
Es war ein wunderbarer Traum gewesen, der Caroline jede Nacht in den Schlaf begleitet hatte, aber meilenweit von der Realität entfernt war. Zwar hatte Miriam ihre Tochter tatsächlich abgeholt, doch erwartete Caroline keineswegs das behagliche und vornehme Familienleben, das sie sich immer vorgestellt hatte. Nein, keine Spur davon. Stattdessen lebte sie mit ihrer
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