Die Landkarte des Himmels
I
Herbert George Wells hätte gern in einer gerechteren und respektvolleren Welt gelebt; einer Welt, in der es so etwas wie eine künstlerische Moral gäbe, die es verböte, das geistige Eigentum anderer zum eigenen Vorteil auszubeuten, und in der jenen gewissenlosen Zeitgenossen, die dies dennoch täten, auf der Stelle ihr sogenanntes Talent verkümmerte und sie dazu verdammte, das Leben auf genauso undankbare Weise zu fristen, wie dies die Durchschnittsmenschen taten. Doch leider war die Welt, in der er lebte, nicht so. In der Welt, in der er lebte, war alles erlaubt; zumindest glaubte Wells das, und dies nicht ohne Grund, denn nur wenige Monate nach Erscheinen seines Romans
Krieg der Welten
hatte ein amerikanischer Schreiberling namens Garrett P. Serviss die Frechheit besessen, dessen Fortsetzung zu schreiben, ohne ihn darüber zu informieren, offenbar sogar in dem Glauben, dies würde ihm schmeicheln.
Das war auch der Grund, warum der Autor, der seine Werke als H. G. Wells schrieb, an jenem heißen Mittag im Juni ein wenig gedankenverloren durch die Straßen Londons wanderte, der damals größten und stolzesten Metropole des Planeten. Er ging durch Soho und hielt auf die Taverne
Krone und Anker
zu, wo dieser Serviss, der in England weilte, ihn zum Lunch eingeladen hatte, weil er in seiner heiligen Einfalt glaubte, ein gutes Essen und einige Pint Bier könnten ihrer beider Gedanken so beflügeln, dass sie am Ende brüderlich verschmölzen. Wenn alles gutging, würde das Essen jedoch nicht so verlaufen, wie der naive Serviss sich das dachte, denn Wells hatte ganz andere Pläne, und die hatten nichts mit einer Kommunion von Seelenverwandten zu tun, wie der Amerikaner sie sich vorstellte. Dabei hatte Wells keineswegs die Absicht, ein mutmaßlich bekömmliches Mittagessen in einen Schauprozess zu verwandeln, weil er seinen eigenen Roman als ein Meisterwerk betrachtete, welches durch die Tatsache, dass jemand einen zweiten Teil dazu verfasste, unweigerlich in den Schmutz gezogen würde. Nein, was der berühmte Schriftsteller einzig fürchtete, war, dass ein anderer mit seiner Idee mehr Geld machen könnte als er selbst. Diese Möglichkeit wühlte ihn innerlich sehr auf, ja, sie entfachte einen wahren Sturm in dem friedlichen Teich, mit dem er sein Seelenleben gern verglich.
Im Grunde war es aber so, dass er mit dem
Krieg der Welten
– wie mit allen seinen anderen Romanen auch – unzufrieden war, weil er damit seine eigentliche Absicht nicht erreicht hatte. Er erzählte darin, wie die Erde von Marsbewohnern angegriffen wurde, die im Besitz einer sehr viel höher entwickelten Technologie als die der Menschen waren. Und er setzte dabei auf denselben Verismus, mit dem schon Sir George Chesney seinen Roman
Die Schlacht bei Dorking
angereichert hatte, in dem von einer mutmaßlichen Invasion der Deutschen in England berichtet und an grausigen Einzelheiten nicht gespart wird. Mit einem ähnlichen Realismus, der von ebenso detailverliebten wie haarsträubenden Beschreibungen gestützt wurde, hatte Wells im
Krieg der Welten
davon erzählt, wie die Marsbewohner ohne jede Mühe und ohne die geringste Gefühlsregung London zerstörten und die in der Stadt lebenden Menschen wie Kakerlaken zertraten. Innerhalb weniger Tage hatten unsere Weltraumnachbarn alle Werte und Selbstachtung der Erdenbewohner mit derselben Gleichgültigkeit in den Staub getreten, wie es die Briten in ihren Kolonien bei den Eingeborenen taten. Sie hatten den Planeten erobert, die Bevölkerung versklavt und die Erde zu einer Art Kurort für die Elite der Marsbewohner gemacht. Und nichts hatte sie aufhalten können. Absolut nichts. Mit dieser düsteren Fabel hatte Wells eine vernichtende Kritik an dem maßlosen britischen Imperialismus, den er aus tiefstem Herzen verabscheute, in die Öffentlichkeit tragen wollen. Da man jedoch glaubte, der Mars sei tatsächlich bewohnt – mit ganz neuen Teleskopen, wie dem des Italieners Giovanni Schiaparelli, waren auf der roten Marsoberfläche Linien zu sehen, die einige Astronomen, als seien sie selbst oben gewesen, sogleich als von einer intelligenten Zivilisation gegrabene Kanäle identifizierten –, hatten die Menschen wirklich Angst vor einer wie im Roman beschriebenen Invasion vom Mars, sodass diese die Aufmerksamkeit der Leser fesselte und sie vom eigentlichen Anliegen des Autors ablenkte. Doch um die Wahrheit zu sagen, hatte Wells das nicht sonderlich überrascht, denn Ähnliches war ihm schon mit seinem
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