Die Larve
Mann mit dem Leinenanzug verließ den Flughafenzug am Osloer Hauptbahnhof und stellte fest, dass der Tag in seiner alten Heimatstadt warm und sonnig gewesen sein musste, denn die Luft war noch immer weich und samtig. Er hatte einen beinah komisch wirkenden Lederkoffer bei sich und verließ den Bahnhof schnell und zielstrebig durch den südlichen Ausgang. Draußen schlug ruhig und gleichmäßig das Herz von Oslo – dessen Vorhandensein von manchen Menschen bezweifelt wurde. Ruhepuls, Nachtrhythmus. Die wenigen Autos, die oben auf dem höher gelegenen Verteiler herumkurvten, bogen eines nach dem anderen ab, nach Osten in Richtung Stockholm oder Trondheim, nach Norden in andere Stadtteile oder nach Westen in Richtung Drammen und Kristiansand. In Größe und Form erinnerte dieser Verteiler an einen Brontosaurus, ein aussterbender Gigant, der bald Wohnungen und Büros weichen musste, die hier entstehen sollten, in Oslos neuem Glamourviertel, nahe der glamourösen neuen Oper. Der Mann blieb stehen und starrte auf den weißen Eisberg, der zwischen Verteiler und Fjord lag. Die neue Oper hatte bereits weltweit Architekturpreise eingestrichen, und die Menschen kamen von weit her, um über das italienische Marmordach zu laufen, das schräg bis in den Fjord abfiel. Das Licht hinter den großen Fenstern war ebenso intensiv wie das Mondlicht, das auf das Gebäude fiel.
Es war verdammt noch mal wahr, dieser Bau war ein Gewinn, dachte der Mann.
Dabei ging es ihm nicht um die hochfliegenden Erwartungen an einen neuen Stadtteil, sondern um die Vergangenheit. Denn früher hatte sich hier die Osloer shooting gallery befunden, das Reich der Junkies, der verlorenen Kinder der Stadt. Im Schutz der Bretterwände billiger Baracken, die sie von ihren wohlmeinenden, sozialdemokratischen Eltern trennten, hatten sie sich ihre Spritzen gesetzt und ihre Trips geritten. Gewinn, dachte er. Jetzt gingen sie in netteren Gegenden vor die Hunde.
Es war drei Jahre her, dass er zuletzt an diesem Ort gewesen war. Alles war neu. Nichts war anders.
Sie hatten sich auf einem Fleckchen Gras eingerichtet, das zwischen Autobahn und Bahnhof wuchs. Beinahe eine Rabatte.
Nicht weniger stoned und abwesend als früher. Auf dem Rücken liegend, mit geschlossenen Augen, als brenne die Sonne vom Himmel. Andere knieten und suchten nach einer Ader, die sich noch nicht ganz verabschiedet hatte, oder standen gebeugt da, mit leicht angewinkelten Junkieknien und einem Rucksack auf dem Rücken, ohne zu wissen, ob sie kommen oder gehen sollten. Es waren die gleichen Gesichter. Nicht dieselben lebenden Toten wie damals, als er noch in der Stadt wohnte, denn die waren längst wirklich tot. Aber die gleichen Gesichter.
Auf dem Weg in Richtung Tollbugata stieß er auf noch mehr von ihnen, und da ihre Welt mit dem Grund seiner Rückkehr zusammenhing, versuchte er, sich einen Eindruck zu verschaffen. Zu erkennen, ob sie zahlreicher geworden waren oder nicht. Er registrierte, dass auch auf der Plata wieder einiges lief. Das kleine viereckige, weißgestrichene Asphaltplateau auf der Westseite des Bahnhofs war so etwas wie das Taiwan Oslos gewesen, eine Freihandelszone für Drogen, eingerichtet, damit die Behörden einen gewissen Überblick hatten, was los war. Und vielleicht auch, um die jungen Erstkäufer abzufangen. Als sich der Handel jedoch immer prächtiger entwickelte und die Plata Oslos wahres Gesicht enthüllt hatte, nämlich das einer brutalen europäischen Drogenmetropole, war aus diesem Ort die reinste Touristenattraktion geworden. Der Heroinumsatz und die Überdosis-Statistik waren schon lange dunkle Flecken auf der weißen Weste der Hauptstadt gewesen, aber kein so offensichtlicher Schandfleck wie die Plata. Zeitungen und Fernsehen fütterten den Rest des Landes mit Bildern von zugedröhnten Jugendlichen, Zombies, die am helllichten Tage durch das Zentrum schwankten. Die Schuld wurde den Politikern zugeschoben. Wenn die Rechten das Heft in der Hand hatten, donnerten und protestierten die Linken: »zu wenig Behandlungsprogramme«, »Gefängnisstrafen schaffen uns nur noch mehr Abhängige«, »die neue Zwei-Klassen-Gesellschaft führt zu Gangbildung und zu vermehrtem Drogenkonsum unter Einwanderern«. Und waren die Linken an der Macht, brachten die Rechten lauthals ihre Slogans vor: »mehr Polizei«, »höhere Anforderungen an Flüchtlinge«, »sieben von zehn Häftlingen sind Ausländer«.
Nach Jahren des offenen Grabenkampfes hatte die Osloer Stadtverwaltung sich
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