Die Laute (German Edition)
aufräumte
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Von hier, vom Backsteinportal des
cmentarz Salwatorski,
wirkt der Hügel wie das, was er ist, ein Trümmerberg, kahl wie ein Totenschädel, von Menschenhand aufgeschüttet, ohne jedes Leben darin, ein gigantischer lieb- und schmuckloser Grabhügel
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Dann gibt Rafał mir einen sanften Stoß, lässt seine Hand aber noch in meinem Rücken liegen. Langsam rollt das Fahrrad an. Eine einspurige Allee, rechter Hand der Erlöserfriedhof, ansonsten unbebautes Land. – Natürlich weiß ich, warum wir gerade hier mit dem Lernen beginnen. Das Haus seiner Mutter liegt nur wenige Straßen entfernt. Wir mussten nur ein wenig Luft nachpumpen, die Räder aus dem Keller tragen und die kaum mehr als zweihundert Meter bis hierher schieben. Vielleicht hat Rafał ja auf derselben schmalen Straße Radfahren gelernt, vor zwanzig Jahren, angeschoben von seinem Vater oder seinem älteren Bruder, ehe sie bei einem Lawinenunglück in den Karpaten am selben Tag ums Leben kamen, als Rafał acht Jahre alt war
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Nun gibt er mir einen kräftigen Stoß und lässt meinen Rücken los. Er hat mir erklärt, wie die Bremsen funktionieren, zwei Handbremsen, eine Rückrittbremse. Mehr zu wissen ist offenbar nicht notwendig, solange es bergab geht. Ich müsse gar nichts tun, außer im Sattel zu bleiben, versichert er mir. Vergisst, dass mein Gleichgewichtssinn nicht so funktioniert wie bei anderen Menschen. Aber solange das Fahrrad rollt, da hat Rafał recht, scheint es kinderleicht zu sein, nicht umzufallen. Er läuft noch einige Meter neben mir her, aber das sanfte Gefälle genügt zur Beschleunigung, sodass er bald nicht mehr Schritt halten kann und zu seinem eigenen Rad zurückkehrt
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Noch bin ich mir unsicher, was ich von dieser Art der Fortbewegung halten soll, fast so schnell wie ein Auto im Stadtverkehr, doch rundum ungeschützt und untrennbar mit diesem Gerät voller gefährlich vorstehender Hieb- und Stichwaffen verschweißt, an denen man sich bei einem Sturz mühelos entleiben kann. Dazu braucht man nicht einmal einen anderen Verkehrsteilnehmer, der einen abdrängt oder überfährt. Doch zweifellos macht es auch Spaß, wie mir der Fahrtwind Tränen in die Augen treibt und an meinen Haaren zerrt und ich ohne jeden Kraftaufwand bergab sause
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Es heißt, dass manche Sterbende im Augenblick des Todes ihr ganzes Leben an ihrem inneren Auge vorbeiziehen sehen. Mir geht es nun bei dieser meiner ersten Radfahrt so. Die Kräfte aller vorangegangenen Bergbesteigungen scheinen sich in dieser einen Abfahrt wieder in kinetische Energie, in Erinnerungsenergie zu verwandeln. Ich beginne, ein wenig mit den Bremsen zu spielen, nur für den nicht ganz auszuschließenden Fall, dass ich sie plötzlich brauchen werde
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1
Der Nachmittag ist bewölkt, ein leichter Wind weht, sodass das Spiel der Jungen kein Ende findet. Sie sind aufgeregt und erhitzt, aber nicht müde. Schläfrig werden sie erst am nächsten Morgen sein, in der Arabisch- und der Englischstunde.
Asis ist ein wenig schmächtig für seine dreizehn Jahre, aber ausdauernd und flink. Seit zwei Jahren spielt er in dieser Mannschaft und hat es vom linken Verteidiger bis zum Stürmer geschafft. Er trainiert jeden Nachmittag und wünscht sich, eines Tages Profifußballer zu werden und vielleicht sogar ins Ausland gehen zu können, so wie Isa Schawki, sein großes Vorbild, der in der saudischen Nationalmannschaft spielt und dafür sogar die saudische Staatsbürgerschaft geschenkt bekommen hat.
Sein Vater lächelt über den sportlichen Ehrgeiz seines Sohnes und ist im Grunde seines Herzens stolz auf Asis, auch wenn er darüber nicht spricht. Er ist nur ein einfacher Schuhmacher. Aber er sorgt dafür, dass Asis immer die besten Fußballschuhe auf dem Spielfeld trägt, während andere Jungen seiner Mannschaft, selbst sein bester Freund Hamid, barfuß spielen.
Hamid besitzt die teuersten Fußballschuhe, die es in Ibb zu kaufen gibt. Er hat sie von seinem Vater geschenkt bekommen. Hamids Vater ist einer der reichsten Männer Ibbs. Aber Hamid zieht seine Schuhe aus und versteckt sie in einer Plastiktüte, wenn er zum Training geht. Als einziger der Spieler geht er nachmittags noch auf eine Privatschule. Das reicht schon, um sich zum Gespött der Mannschaftskameraden zu machen.
Asis’ Mutter, die selbst nie die Schule besuchen durfte und weder lesen noch schreiben kann, wünschte sich, ihr Sohn würde sich mit demselben Ehrgeiz, der ihn auf dem Fußballplatz beflügelt, der Schule widmen.
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