Die Laute (German Edition)
Fußball, so glaubt sie, sei kein ernsthafter Beruf, mit dem man eine Familie ernähren könne. Und in dieser Hinsicht ist sie eine wirklich erfahrene Frau.
Asis hatte seiner Mutter versprochen, sie zum Arzt zu begleiten. Nun ist es zu spät. Er glaubt nicht, dass es etwas Ernstes ist. Seit Wochen schon klagt sie über Schwindel, Kopfschmerzen und Erschöpfung. Trotzdem hat er ein schlechtes Gewissen. In der kurzen Halbzeitpause verlässt er den Platz und geht zum Taxiphone, um seiner Mutter irgendeine Ausrede für sein Fernbleiben mitzuteilen. Asis’ Familie hat kein eigenes Telefon. Er muss die Nachbarin anrufen, die dann bei seiner Mutter anklopft und sie zum Telefon holt oder ihr seine Nachricht übermittelt.
Die folgenden Sekunden wird Asis nie mehr vergessen. Der Weg vom Fußballplatz zu den nächsten Häusern führt über eine staubige Freifläche, ihr Spielfeld ist im Grunde nichts anderes als diese von einer grobkörnigen, grauschwarzen Schlacke bedeckte Brache hinter der Altstadtmauer. Sie nennen ihn zwar »Aschenplatz«, aber dieser scharfkantige Quarz hat nichts mit den feinen grauen Flocken zu tun, die Asis’ Mutter allabendlich aus dem Küchenofen schaufelt. Wer hier stürzt, schürft sich unweigerlich tiefe Wunden in Knie und Handballen, und die tiefer eingedrungenen Granulatsplitter schimmern noch Jahre später blauschwarz durch die Haut hindurch.
Torpfosten gibt es nicht. Steine, Schulranzen oder Sandalen bilden die Markierungen, die vor jedem Spiel neu abgemessen werden. Von der täglichen Beanspruchung ist der Platz vor den Toren schon ganz ausgehöhlt, sodass sich in den Regenzeiten das Wasser darin sammelt. Doch selbst diese Schlammteiche halten sie nicht vom Training ab. Asis mag ein nasses Fußballfeld lieber als ein staubiges. Trotz der Schlammspritzer bis hinauf zum Hals fühlt er sich am Abend sauberer als mit den Staubkrusten bis in die Ohren und unter die Lider.
Ein leises Donnergrollen kündigt ein Gewitter an, aber Asis denkt nur daran, was er seiner Mutter sagen soll.
Auf diesem freien, hautaufschürfenden Feld gibt es nichts als einen einsamen hölzernen Strommast und einige Sandbuckel. Je zwei Schulranzen markieren die Torpfosten. Noch etwa dreißig Meter vom Taxiphone entfernt, direkt unter dem Strommast, trifft Asis der Blitz. Von der Wucht des Einschlags wird er zurückgeschleudert und dann, während er noch zu Boden stürzt, seltsamerweise nach vorn geworfen. Und als er sich verblüfft umdreht, sieht er seinen eigenen Körper im Dreck liegen. »Allmächtiger Gott, sieht verdammt so aus, als sei ich tot!« denkt er.
Dann sieht er, wie seine Spielkameraden auf ihn zurennen und sich über ihn beugen. Und von der anderen Seite kommt der Mann aus dem Taxiphone, nicht der Manager, sondern jemand, der dort zufällig telefoniert hat. Er bahnt sich einen Weg durch die Jungenschar, kniet sich neben Asis’ Körper und beginnt sogleich, mit seinen Handballen fest auf Asis’ Brust zu drücken, sodass Asis seine eigenen Rippen knacken hört. Der Mann muss verrückt sein, denkt Asis, denn während er seinen Brustkorb malträtiert, singt er ein einfaches, idiotisches Kinderlied.
Lass ihn singen und mir die Rippen brechen! denkt er achselzuckend und steigt eine Treppe hinauf, die vorher noch nicht da war. Er denkt an seine Mutter, die nun ohne ihn zurechtkommen muss. Aber früher oder später wäre er ohnehin gegangen. Nun müssen eben Nasik und Aschraka, seine Schwestern, sie bei Arztbesuchen oder Behördengängen unterstützen.
Es wird immer heller, je höher Asis steigt, als würden die Wolken sich lichten. Das war aber ein kurzes Gewitter! Ein einziger Blitz, und alles nur meinetwegen! – Er muss lächeln. Ja, je mehr er sich von dem Körper da unten entfernt, desto größere Freude erfüllt ihn. Wenn nur dieser Mann mit dem Tanz auf seinen Rippen und seinem blöden Gesang aufhören würde! Asis ist dem Licht schon so nah, nur einige Schritte noch, doch – Rummms! – wird er innerhalb eines Augenblicks die Stufen hinunter und zurück in seinen Körper katapultiert.
Er weiß, dass er zurück in seinem Körper ist, denn er fühlt Schmerzen, Schmerzen in seiner Stirn, wo der Blitz in seinen Körper eindrang, und im rechten Bein, seinem gefürchteten Stürmerbein, durch das die elektrische Ladung austrat und in den nassen Boden fuhr. Nur ein lebender Körper kann einen so krassen Schmerz empfinden, weiß Asis. Er möchte den Mann anschreien, mit seinem Pressen und Singen
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