Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
und seine Familie wohnten, und sein milder Schein drang durch die Einflugöffnung der Bruthöhle. Es war eine ideale Nacht für die Feiern, von denen die Eulen gar nicht genug bekamen und an denen sie das Heranwachsen ihrer Nestlinge und das Verstreichen der Zeit maßen.
So kam es, dass die drei Eulenkinder in dieser Nacht, kurz vor dem Morgengrauen gemeinsam Erstes Fleisch, Erstes Fell und Erste Knochen feierten. Kludd würgte sein erstes richtiges Gewölle aus, einen kleinen Ballen aus Knöchelchen und Fell, geformt wie sein Muskelmagen.
„Das ist aber mal ein schönes Gewölle, mein Sohn!“, lobte ihn der Vater.
„Finde ich auch“, pflichtete die Mutter bei. „Wunderhübsch.“
Kludd schien ausnahmsweise einmal zufrieden mit der Welt. Und Mr s Plithiver dachte bei sich, dass doch eigentlich kein Vogel mit einer solch vornehmen Verdauung durch und durch schlecht sein konnte.
In jener Nacht, da der große, orangefarbene Mond über den Himmel wanderte, bis zum ersten fahlen Lichtschein des anbrechenden Tages erzählte Noctus Alba seinen Kindern die alten Geschichten aus Glaux’ Zeiten, von denen keine Eule je genug bekommt. „Glaux“ nannte sich der uralte Ritterbund, von dem alle Eulen abstammen.
Der Vater begann: „Es war noch zu Glaux’ Zeiten, und das ist lange, lange her, da lebte in einem Königreich namens Ga’Hoole ein Bund edelmütiger Eulen, dessen Mitglieder Nacht für Nacht ausflogen und Gutes taten. Niemals sprachen sie ein unwahres Wort. Sie hatten sich das Ziel gesetzt, alles Unrecht auszurotten, die Schwachen zu stärken, die Verzweifelten wieder aufzurichten, die Stolzen in die Schranken zu weisen und jene zu entmachten, die Unterlegene ausnutzen. Von dieser erhabenen Gesinnung beseelt, breiteten sie ihre Schwingen au s …“
Kludd gähnte. „Ist die Geschichte wirklich so passiert, Papa?“
„Es ist eine Sage, eine Legende, Kludd.“
„Aber ist sie wahr? Ich mag nämlich nur wahre Geschichten.“
„Eine Legende, mein Sohn, ist eine Geschichte, die man anfangs nur im Magen spürt und die nach und nach im Herzen wahr wird. Und durch die man vielleicht eine bessere Eule wird.“
Keine zwei Gewölle
Im Herzen wahr wir d … Diese Worte, gesprochen von der kehligen Stimme seines Vaters, waren womöglich das Letzte, woran sich Soren erinnerte, ehe er mit einem Plumps im weichen Moos landete. Noch ganz benommen, schüttelte er sich und rappelte sich hoch. Er schien sich nichts gebrochen zu haben. Aber was war passiert? Er hatte ganz gewiss keine heimlichen Flugversuche unternommen, während seine Eltern Jagen waren. Gütiger Glaux! Er war ja noch nicht einmal Ästling und damit längst noch nicht „flugtüchtig“, wie seine Mutter es nannte. Wie kam er dann hierher? Er konnte sich nur noch entsinnen, dass er aus der Einflugöffnung der Bruthöhle gespäht und nach seinen Eltern Ausschau gehalten hatt e – und auf einmal war er durch die Luft gepurzelt.
Soren reckte den Hals. Die Tanne ragte schier bis in den Himmel und die Bruthöhle befand sich ganz weit oben, so viel wusste er. Was sagte sein Vater immer? Neunzig Spannen hoch? Hundert? Aber mit Zahlen wusste Soren nichts anzufangen. Er konnte nicht nur nicht fliegen, er konnte auch nicht zählen. Eins wusste er aber: Er war in Gefahr, ja, in Lebensgefahr. Die Ermahnungen seines Vaters, über die sich Kludd so oft beschwert hatte, kamen ihm in den Sinn, wie er da im Finstern auf dem Waldboden hockte. Die ganze schreckliche, beängstigende Wahrheit wurde ihm bewusst, die grausame Wahrheit jener Worte: „Ein Eulenkind, das von seinen Eltern getrennt wird, ehe es allein fliegen und jagen kann, muss sterben.“
Sorens Eltern waren weit, weit fort auf einem ausgedehnten Beuteflug. Seit Eglantine geschlüpft war, kam das zwar nur noch selten vor, aber der Winter war nicht mehr fern und die Nahrung wurde knapp. Darum war Soren jetzt ganz allein. Er schielte am Stamm der Tanne hoch. Ihr Wipfel schien mit den Wolken zu verschmelzen. Soren konnte sich kaum vorstellen, dass irgendjemand verlassener sein konnte als er. „Allein, allei n …“, sagte er seufzend vor sich hin.
Und doch regte sich in ihm ein schwacher Hoffnungsfunke. Er glaubte, sich zu entsinnen, dass er im Fallen seine noch fast kahlen Flügelchen so bewegt hatte, dass sie „die Luft einfingen“, wie sein Vater es nannte. Er versuchte angestrengt, sich zu erinnern, wie sich das angefühlt hatte. Ja, einen flüchtigen Augenblick lang war das Fallen herrlich
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