Engel der Schatten - 01 - Astrid Martini
Astrid Martini
Engel der Schatten
Unzählige graue Wolken durchzogen den dunklen Nachthimmel. Sie gaben ihm etwas Unwirkliches, Mystisches und auch ein wenig Unheimliches.
Sie krochen so dicht und drohend über das finstere Himmelszelt, dass kein einziger Stern die Möglichkeit hatte, bis zur Erde hindurchzuschimmern – hinter der dichten grauen Decke verschwand sogar der volle runde Mond komplett.
Die feucht-schwüle Nachtluft ließ erahnen, dass ein gewaltiges Gewitter im Anmarsch war. Die ersten dicken Tropfen waren gefallen, hielten sich dann aber doch zurück, ganz so, als würden sie auf einen besonderen Moment warten.
Heftige Windböen tauchten immer wieder wie aus dem Nichts auf, nur um dann ebenso urplötzlich zu verschwinden, wie sie gekommen waren.
Sie rundeten die „Weltuntergangsstimmung“ bedrohlich – aber auch irgendwie malerisch – ab. Die Luft schien wie elektrisiert, und es herrschte eine eigentümliche
Atmosphäre, die fast jeden besorgt zum dunklen Himmel blicken ließ.
Nicholas Blick glitt über die grauen Nebelschwaden, die wie eine Unheil verkündende Masse zwischen den Bäumen und Häusern hingen. Sie vermittelten eine
bedrückende Atmosphäre. Es war, als senkte sich der Himmel.
Er atmete tief aus, seine Muskeln spannten sich.
Das letzte Mal, als er hier auf der Erde mit den vielfältigen Verlockungen war, lag schon Wochen zurück. Nicholas liebte die Versuchung, die Verführung, die Herausforderung, den Kitzel des Neuen – die Jagd.
Ein paar Wochen lang hatte er sich damit zufrieden gegeben, sein Spiel vom Schattenreich aus zu treiben, einer anderen Dimension, die es ihm nicht ermöglichte, zum Licht … zur Erlösung … zum Paradies aufzusteigen.
Er war ein gefallener Engel, dem der Zugang zum Licht für immer verwehrt bleiben sollte. Es sei denn, er würde der wahren, aufrichtigen Liebe begegnen und diese mit derselben Inbrunst erwidern wie sein Gegenüber.
Nicholas verzog bei dem Gedanken daran zynisch seine Mundwinkel.
Dazu würde es nie und nimmer kommen, denn er war zu keinen selbstlosen Gefühlen fähig. Er brachte das Verderben, das Böse, die Dunkelheit und das Grauen. Außerdem
hatte er nicht viel für Gefühlsduseleien übrig.
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Und nichts anderes war diese ach so geheiligte und von allen herbeigesehnte Liebe für ihn nun einmal.
„Liebe“ – Nicholas spie das Wort förmlich aus. „Ich pfeife auf die Liebe. Mich dürstet es nach Lust, Gier, erhitzter Haut und weichen Schenkeln. Und ich vergehe vor Lust, wenn ich sehe, wie sehr die reizenden Ladys leiden, nachdem ich sie zu sündigen Torheiten verführt habe.“ Er lachte rau auf.
Eine schwüle Brise zerzauste sein langes dunkles Haar, strich über seine erhitzte Haut und ließ sein Hemd flattern. Grimmig lächelnd blickte er zum dunklen Nachthimmel empor. Sein Blick folgte dem Lauf der Wolken.
Sie sind Wanderer, wie ich es bin. Sie wandern zwischen den Welten, dorthin, wo sie ohne Sehnsüchte und Schmerzen zu Hause sind. Doch, wo bin ich zu Hause?
Er blieb sich die Antwort schuldig, doch er wusste wenigstens, was er brauchte.
Jetzt … sofort!
Er brauchte eine Herausforderung – eine unschuldige Seele, die er ins Dunkel locken konnte. Sein Blut geriet in Wallung.
Er tippte mit nachdenklich zusammengekniffenen Augen den Zeigefinger gegen seine Unterlippe und malte sich in Gedanken anregende Bilder von wildem Sex und rasender Lust aus. Er dachte an verschiedene Frauen, die er bisher beobachtet hatte und die in Frage kämen – verwarf die Gedanken an sie dann aber wieder, denn sie passten nicht zu seiner übergroßen Gier.
Sie waren nichts Besonderes, nichts Einzigartiges. Nicht unschuldig und rein genug. Er sehnte sich nach einer weißen, reinen Seele. Wollte sie besitzen und dann ins Verderben stürzen. Wollte helles Weiß in abgrundtiefes Schwarz verwandeln und seine Macht spüren, indem er aus dieser markanten Kraftprobe als Sieger hervorging.
Nicholas liebte es zu dominieren, zu beherrschen, zu manipulieren, zu blenden. Er genoss die Verzweiflung der Damen, nachdem er von ihnen abgelassen und sie zu den Abgründen der menschlichen Seele und schließlich ins Dunkel geführt hatte. Hatte er sie nämlich dort, wo er sie haben wollte, so war alles weitere ein Leichtes für ihn. Für eine weitere Nacht mit ihm waren sie bereit, ihre Seele an ihn zu verkaufen und sich selbst damit ins Reich der Dunkelheit zu verbannen.
Und genau das war sein Ziel.
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Astrid
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