Die Legende
war wütend, als er loszog und die Blicke der Mensehen im Rücken spürte, die auf die Straße gekommen waren, um ihm nachzusehen. Er war wütend, weil er wußte, daß seine Ansprache voller Falsch gewesen war, und er war ein Mann, der die Wahrheit liebte. Er wußte, das Leben zerbrach viele Männer. Manche waren stark wie Eichen - bis ihre Frau starb oder sie verließ oder bis ihre Kinder litten oder hungerten. Andere starke Männer zerbrachen, wenn sie ein Glied oder - schlimmer noch - den Gebrauch ihrer Beine oder das Augenlicht verloren. Jeder Mann hat eine Schwachstelle, wie stark er im Geiste auch sein mag. Irgendwo tief in seinem Innern ist die Stelle, die nur die launische Grausamkeit des Schicksals finden kann. Die Stärke eines Mannes entspringt letztendlich seinem Wissen um die eigenen Schwächen, wie Druss wußte.
Seine eigenen Ängste drehten sich um Vergreisung und Senilität. Schon der Gedanke daran ließ ihn zittern. Hatte er in Skoda wirklich eine Stimme gehört, oder war es nur sein eigenes Entsetzen gewesen, das in ihm widerhallte?
Druss die Legende. Der stärkste Mann seiner Zeit. Eine Tötungsmaschine, ein Krieger. Und warum?
Weil ich nie den Mut hatte, Bauer zu sein, sagte Druss zu sich.
Dann lachte er, verdrängte alle düsteren Gedanken und Selbstzweifel. Das war eine seiner Gaben.
Heute hatte er ein gutes Gefühl dabei. Er würde Glück haben. Wenn er sich an bekannte Pfade hielt, würde er bestimmt auf Gesetzlose treffen. Ein alter Mann, ganz allein, war eine nicht zu verachtende Beute. Wenn sie ihn unbemerkt und unbelästigt durch den Wald ziehen ließen, wären sie eine sehr unfähige Bande.
Der Wald wurde allmählich dichter, als er die Ausläufer von Skultik erreichte. Riesige, knorrige Eichen, grazile Weiden und schlanke Ulmen verschränkten ihre Zweige ineinander, soweit das Auge reichte - und weit darüber hinaus, wie er wußte.
Die Mittagssonne schickte schimmernde Lichtstrahlen durch die Zweige, und der Wind trug das Rauschen kleiner Wasserfälle von verborgenen Flüssen heran. Es war ein Ort der Verzauberung und Schönheit. Zu seiner Linken unterbrach ein Eichhörnchen seine Jagd nach Nahrung und beobachtete wachsam, wie der alte Mann vorbeimarschierte. Ein Fuchs duckte sich im Unterholz, und eine Schlange glitt rasch unter einen alten Baumstumpf, als er näher kam. Über ihm sangen Vögel einen Chor des Lebens.
Den ganzen Nachmittag über wanderte Druss weiter und brach gelegentlich in frohen Gesang mit anzüglichen Versionen von Schlachtgesängen zahlreicher Völker aus.
Gegen Abend spürte er, daß er beobachtet wurde.
Wie er das spürte, konnte er nie erklären. Die Haut im Nacken spannte sich, und ihm wurde zusehends bewußt, daß ebendieser Nacken ein gutes Ziel abgab. Was es auch war, er hatte gelernt, seinen Sinnen in dieser Hinsicht zu trauen. Er löste Snaga aus ihrer Scheide.
Kurz darauf gelangte er auf eine kleine Lichtung, umgeben von einem Kreis aus Buchen, die sich schlank und gerade vor einem Hintergrund aus Eichen abzeichneten.
In der Mitte der Lichtung saß ein junger Mann auf einem umgestürzten Baum. Der Mann trug eine handgewebte grüne Tunika und lederne, braune Beinkleider. Auf seinen Schenkeln ruhte ein Langschwert. Neben ihm lagen ein Langbogen und ein Köcher voller mit Gänsefedern versehener Pfeile.
»Guten Tag, alter Mann«, sagte er, als Druss erschien. Wendig und stark, dachte Druss, als er mit dem Auge des Kriegers die katzengleiche Anmut des Mannes erkannte, der aufstand, das Schwert in der Hand.
»Guten Tag, Bursche«, sagte Druss und sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Unterholz zu seiner Linken. Ein Wispern von Tuch auf Zweig kam von rechts.
»Was führt dich in unseren bezaubernden Wald?« fragte der junge Mann. Druss ging lässig auf eine Buche zu und setzte sich, mit dem Rücken gegen den Stamm gelehnt.
»Der Wunsch nach Einsamkeit«, sagte er.
»Ach ja. Einsamkeit! Und nun hast du Gesellschaft. Vielleicht nicht gerade dein Glückstag heute.«
»Ein Tag bringt soviel Glück wie der andere«, meinte Druss, das Lächeln des anderen erwidernd. »Warum bittest du deine Freunde nicht zu uns? Es muß doch feucht sein, da im Gebüsch herumzuschleichen.«
»Wie unhöflich von mir, wirklich. Eldred, Ring, kommt her und begrüßt unseren Gast.« Mit schafsdummen Gesichtern bahnten sich zwei weitere Jünglinge ihren Weg durch das Gebüsch und stellten sich neben den ersten. Beide trugen die gleiche Tunika und lederne Beinkleider.
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