Die Legenden der Vaeter
wieder aus dem Industriegebiet heraus. Am Straßenrand warben Reklametafeln für deutsche Supermärkte, die Filialen in Polen aufgemacht hatten, ich kam durch Bytom und Tarnowskie Góry, früher Beuthen und Tarnowitz, und dann war ich da.
Lubliniec, deutsch Lublinitz, war keine schöne Stadt. Viele Geschäfte standen leer, durch die Fußgängerzone streiften ein paar Teenager, nur an einer Tankstelle herrschte reger Betrieb. Ich folgte der Straße, die nach Norden aus der Stadt herausführte, in den Ortsteil Steblau, der auf dem polnischen |39| Stadtplan Steblów hieß. An einer Kreuzung entdeckte ich auf der linken Seite das leere Schaufenster einer ehemaligen Fleischerei; durch die Scheibe sah man noch die Kacheln und den Verkaufstresen. Hier bog ich ab. Die
ulica Jagusia
war eine Sandpiste mit Schlaglöchern. Ich parkte vor dem schmalen, grau verputzten Haus mit der Nummer fünf, klingelte an der Tür und wartete darauf, dass Anna, Józefs jüngere Schwester, mir die Tür öffnen würde. Angemeldet hatte ich mich nicht.
Es war einfacher, als ich es mir vorgestellt hatte. Anna hatte während des Krieges in der Schule Deutsch gelernt. Sie küsste mich auf beide Wangen, und ich folgte ihr die Treppe hinauf, in die kleine Wohnung im oberen Stockwerk des Hauses, zwei Zimmer, eine kleine Küche und ein Bad, im Flur vor dem Spiegel eine alte Margarineschachtel mit Lockenwicklern.
Ich blieb den ganzen Nachmittag. Als ich mich wieder ins Auto setzte, hatte ich einen Zettel in der Tasche mit Daten und mit Namen von Orten und Menschen, dazu eine Handvoll alter Fotografien. Ich hatte einen ersten, flüchtigen Blick auf das Leben meines polnischen Großvaters geworfen. Einiges, was ich erfahren hatte, hatte mich überrascht. Am meisten jedoch verblüffte mich die Tatsache, dass mein Vater selbst nie versucht hatte, mehr über Józef Koźlik zu erfahren, obwohl er offenbar die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Vor fünfundzwanzig Jahren war auch er hier in Steblau und Lublinitz gewesen. Anna hatte mir ein unscharfes Farbfoto aus dem Herbst des Jahres 1978 gezeigt. Es zeigte meine Eltern in der Küche von Annas Wohnung.
Mein Vater war damals einunddreißig Jahre alt gewesen, |40| nur zwei Jahre jünger, als ich es jetzt war. Anna hatte mich an diesem Nachmittag immer wieder mit seinem Namen angesprochen. Für sie musste mein Besuch wie ein Déjà-vu gewesen sein. Anscheinend sah ich meinem Vater ähnlicher, als ich geglaubt hatte, und auf dem Weg zurück nach Krakau dachte ich zum ersten Mal daran, Ordnung in das Flechtwerk von Geschichten zu bringen, das mich seit meiner Kindheit begleitet hatte.
Die Zigarrenkiste hatte in meiner Wohnung auf mich gewartet. Sie stand auf dem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer, und auf dem Deckel hatte sich während der drei Monate, die ich in Polen verbracht hatte, eine dünne Schicht Staub abgelagert. Erst als ich zurück in Berlin war, machte ich mich daran, die Briefe zu lesen, einen nach dem anderen, so wie man einen Stapel Post durchsieht, nachdem man von einer langen Reise heimgekehrt ist.
Es gab nur Józefs Briefe, die Antworten meines Vaters waren nicht erhalten. Anna hatte mir erzählt, dass sie ihren Bruder nur wenige Wochen vor seinem Tod von einem Fenster ihrer Wohnung aus dabei beobachtet hatte, wie er im Garten ihres Elternhauses in Lublinitz mit ein paar Holzspänen ein kleines Feuer in einem Ascheeimer entfacht hatte, um darin stapelweise Papiere zu verbrennen, alte Kalender, amtliche Schreiben, Fotografien. Auch die Briefe meines Vaters müssen darunter gewesen sein, und so konnte ich das, was er an Józef geschrieben haben muss, aus den Antworten nur erahnen.
Wenn ich an meinen Vater dachte, dann dachte ich an Fürstenau. Selbst als das Bild, das er mir beschrieben hatte, später Risse und Sprünge bekam und zuletzt von der vermeintlichen |41| Idylle im Haus seiner Großeltern nichts mehr übrig war, war die Vorstellung, die ich mit ihm verband, die jenes kleinen Jungen, der in Arnolds Tischlerwerkstatt auf dem Fußboden saß und mit Holzresten spielte. Der junge Familienvater, der mir in Józefs Briefen mit seinen Sorgen und Nöten entgegentrat, war mir fremd, selbst wenn die Namen der Orte, an denen er als Lehrer gearbeitet hatte, vergessene Erinnerungen an meine eigene Kindheit in mir hervorriefen, an Freitagnachmittage, an denen mein Vater nach einer langen Woche in einer anderen Stadt nach Hause kam. Müde stieg er aus dem Auto, in der Wildlederjacke, die ich
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