Die Legenden der Vaeter
seit sechs Jahren verheiratet und wohnt immer noch in seinem Haus. Sie hat inzwischen drei Kinder, ihren Sohn Józef und zwei Mädchen, Anna und die kleine Hilda, die erst drei Monate alt ist.
Als Augustyn das nächste Mal nach Groß Stanisch kommt, stellt Marias Vater ihn zur Rede und verlangt eine Erklärung dafür, dass sein Schwiegersohn seinen Schwestern eine Kutsche mit lederbezogenen Sitzen schenken will, sich gleichzeitig aber keine Wohnung für seine Frau und seine Kinder leisten kann. Augustyn muss erst den Wutausbruch seines Schwiegervaters über sich ergehen lassen, und anschließend macht auch Maria ihm schwere Vorwürfe. Sie hat es satt, immer wieder vertröstet zu werden, und setzt ihrem Mann ein Ultimatum. Wenn er nicht umgehend eine Wohnung besorge und sie, Józef und die Mädchen nach Siemianowitz hole, brauche er sich in Groß Stanisch nicht |48| mehr blicken zu lassen. Und ganz bestimmt werde sie keine ausgedehnten Spaziergänge mehr mit ihm unternehmen, um zwischen den dornigen Brombeerranken am Ufer der Malapane ein weiteres Kind zu zeugen.
Augustyn kauft keine Kutsche, und nach vier Wochen hat er die nötigen Papiere für die Übersiedlung seiner Familie zusammen. Die bürokratischen Hürden sind niedrig. Augustyn hatte bereits 1923 die polnische Staatsangehörigkeit angenommen, und damit sind auch seine Ehefrau und seine drei Kinder Polen. Józef ist vier Jahre alt, als er im Sommer 1929 zum ersten Mal sein Heimatland betritt.
Es ist laut. Pferdefuhrwerke rattern über das Kopfsteinpflaster, Werksirenen heulen, Lokomotiven pfeifen. Auf dem Markt rufen die Händler ihre Preise aus, Kirchenglocken läuten. Siemianowitz, das nach der Teilung Oberschlesiens den Namen Siemianowice Śląskie trägt, ist eine andere Welt als Bendawitz oder Groß Stanisch. Im Süden der Stadt war im neunzehnten Jahrhundert eine Eisenhütte entstanden, die Laurahütte, mit einem Schienenwalzwerk und Bergwerken, die Steinkohle und Erz liefern. In der Hütte ist vom frühen Morgen bis spät in den Abend hinein Betrieb. Walzen knirschen, Gebläse rauschen, Metall schlägt auf Metall.
Die schmale Straße, die an der Ostseite der Hütte direkt an der Werksmauer vorbeiführt, heißt jetzt
ulica Piastowska,
nach dem polnischen Königsgeschlecht der Piasten, die im Mittelalter über das Herzogtum Schlesien geherrscht hatten. Hier mietet Augustyn im Jahre 1929 eine Wohnung für sich, seine Frau und die drei Kinder. Durch die dünnen Fensterscheiben dringt der Lärm aus den Werkhallen bis in |49| die kleine Wohnung der Familie. Neben der Küche gibt es nur ein Zimmer, in dem drei Betten stehen, eines für Augustyn und Maria, eines für Józef, eines für die beiden Schwestern Anna und Hilda. Im Jahr nach dem Umzug wird Lena geboren; sie schläft bei den Eltern. Die Toilette befindet sich in einem Holzverschlag im Hof, ein Badezimmer gibt es nicht. Am Wochenende stellt Maria einen großen Topf mit Wasser auf den Herd, Augustyn trägt eine schwere Zinkwanne die Treppen vom Dachboden herunter. Dann wird gebadet, der Reihe nach, erst die Eltern, dann die Kinder.
Im Frühjahr 1932 wird Józef im Alter von sieben Jahren eingeschult. Er hat es nicht weit. Das Gebäude der Volksschule liegt nur eine Straße entfernt. Józef braucht sich im Hof hinter dem Haus nur durch die Lücke im Bretterzaun zu zwängen, um dem schmalen Pfad zu folgen, der durch das Dickicht aus Brennnesseln und wilden Rosen führt, und ein paar Minuten später steht er schon auf dem Hof der Schule in der
ulica Matejka.
Der Unterricht beginnt um acht Uhr morgens und endet wochentags um zwei Uhr nachmittags, am Samstag bereits um eins. Im Klassenzimmer steht ein Rohrstock aus Bambus in der Ecke, und wer sich mit seinem Banknachbarn unterhält oder seine Hausaufgaben vergisst, bekommt ein Dutzend Schläge in die offene Hand. Im Unterricht dürfen die Schüler nur Polnisch sprechen, aber auf dem Hof und auf der Straße hört man auch Deutsch, mit einem harten schlesischen Dialekt. Józef hat in Groß Stanisch sprechen gelernt. Während seine Eltern zu Hause in ihrer Muttersprache mit ihm geredet haben, hat er sich beim Spielen mit den Nachbarskindern auf Deutsch unterhalten, und auch in Siemianowitz wechselt er ständig hin und her.
|50| In der großen Pause holen die jüngeren Schüler Knöpfe aus der Tasche und werfen sie aus zwei Metern Entfernung gegen eine Mauer. Wer seinen Knopf mit dem geringsten Abstand zur Wand platziert, streicht die Einsätze der
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