Die Legenden der Vaeter
Straßen mit Kopfsteinpflaster, Obstgärten und duftendem Flieder. Er steckt die Bilder zurück in den Umschlag und greift zur Zigarettenschachtel. Vor dem Fenster des Abteils dämmert der Morgen.
|8| I ch mochte es, wenn mein Vater mir Geschichten aus seiner Kindheit erzählte. Sein Großvater war Tischler gewesen, und mein Vater hatte oft ganze Nachmittage in der Werkstatt verbracht. Er spielte mit Holzresten, sortierte rostige Nägel und scharfkantige Schrauben in Kästen und Gläser und blätterte stundenlang in Musterbüchern und Katalogen für Messingbeschläge, Scharniere und Schlösser. Sein Großvater, er hieß Arnold, trug bei der Arbeit einen grauen Kittel, und mein Vater sah ihm gern über die Schulter, wenn er mit seinen Schnitzwerkzeugen aufwändige Verzierungen für Schränke, Kommoden und Schlafzimmereinrichtungen anfertigte.
Die Erzählungen meines Vaters waren Berichte aus einem verzauberten Land. Auf den Hobelbänken lagen Werkzeuge mit klingenden Namen, Putzhobel und Fuchsschwänze, Schraubzwingen und Rundfeilen, und während in dem Leimtopf, der in der Mitte der Werkstatt auf einem Ofen leise vor sich hin köchelte, zähe Blasen aufstiegen und träge an der Oberfläche zerplatzten, lauschte mein Vater den einsilbigen Unterhaltungen der Gesellen, die sich in einer Art Geheimsprache über Maßzahlen und die Wahl der richtigen Holzsorte verständigten, Eiche, Eibe oder Erle, Nuss oder Kirsche.
Die Hobelbänke standen im ersten Stock der Tischlerei. |9| Im Erdgeschoss war die kleine Beizstube untergebracht, deren Wände von oben bis unten mit bunten Geldscheinen aus der Inflationszeit tapeziert worden waren. Hier arbeitete Karl, Arnolds älterer Bruder, und gleich daneben lag der Maschinensaal. Durch die Wand drangen die gefährlichen Geräusche der Hobelmaschine, der Furnierpresse und der Bandsäge, die vor dem Krieg von einer gewaltigen Dampfmaschine angetrieben worden waren und jetzt durch Elektromotoren in Gang gehalten wurden. Der Zutritt zu diesem Raum war meinem Vater streng verboten, und in der Werkstatt versuchte er immer wieder, einen Blick auf den verstümmelten Daumen des Gesellen zu erhaschen, der sich vor langer Zeit an einer der Maschinen verletzt hatte und trotzdem geschickter als alle anderen mit Spitzbohrer und Winkel umgehen konnte.
Am Abend wurde es still in der Tischlerei. Die Maschinen verstummten. Der Lehrling fegte Sägemehl und Holzwolle zusammen, die Gesellen rauchten am Holzschuppen noch eine Zigarette. Während Arnold einen letzten Blick in das Auftragsbuch warf, lief mein Vater an Johannisbeerbüschen, Stachelbeersträuchern und Obstbäumen vorbei über den Hof.
Auch diese letzten Stunden des Tages bekamen in seinen Erzählungen einen märchenhaften Glanz. Essensduft schlug ihm entgegen, wenn er das große Wohnhaus betrat. Arnolds Vater, der ebenfalls Tischler gewesen war, hatte vor dem Ersten Weltkrieg Möbel an ostpreußische Gutsbesitzer und Industrielle in ganz Deutschland verkauft. Er war gut im Geschäft gewesen und hatte sich in seiner Heimatstadt in der Nähe des Bahnhofs eine Werkstatt und eine Bürgervilla im Stil eines englischen Landhauses mit verwinkeltem |10| Grundriss bauen lassen, mit einer Diele, die Halle genannt wurde, und einem Herrenzimmer mit Klavier und gerahmten Stichen an der Wand, wo Gäste empfangen wurden. Jetzt schürte Anna, die Großmutter meines Vaters, in der Küche das Feuer und setzte eine schwere, gusseiserne Pfanne auf den Herd, um Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln zuzubereiten. Sie holte Einmachgläser mit roter Beete, eingelegten Gurken und süßem Kompott aus dem schier unerschöpflichen Vorrat der Speisekammer, die sich in einem kühlen Kellerraum unter der Küche befand. Die Regale bogen sich unter der Last der Gläser mit Erbsen und Bohnen, auf dem Fußboden standen bauchige Flaschen mit Most und selbst hergestelltem Obstwein.
Mein Vater schien sich an jede Einzelheit zu erinnern, an den dampfenden Becher mit heißem Kakao, der an seinem Platz bereits auf ihn wartete, wenn er abends ins Haus kam, an die strahlend weiße Kittelschürze seiner Großmutter, auf der niemals ein Fleck zu sehen war, an die Sticheleien zwischen seiner Mutter Marianne und ihrer jüngeren Schwester Eleonore, die noch ein Teenager war und von allen nur Lorchen genannt wurde, und an das braune Fläschchen mit Jodtinktur, aus dem Arnold nach dem Essen einige Tropfen in ein Glas Wasser gab, das er in einem Zug hinunterstürzte. Er hatte einen
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