Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
Der junge Mann neben ihm schien tot zu sein. Soweit er es im schwachen Dämmerlicht, das eine Glühlampe spendete, erkennen konnte, waren seine Augen geschlossen. Seit ungefähr einer Stunde, so schätzte er, denn ein kurzer Schlaf, er wußte nicht, wie lange dieser währte, hatte sein Zeitgefühl durcheinander gebracht, gab der Mann keinerlei Geräusche mehr von sich. Sein Röcheln war erloschen. Er bedauerte es, in all der Hektik und auch Panik, die seine verzweifelte Frau auf ihn übertragen hatte, nicht an seine Armbanduhr gedacht zu haben. Er war ein Mensch mit deutschen Tugenden wie Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit. Stets galt sein erster morgendlicher Griff diesem Erbstück seines Vaters. Auch an dunklen Wintermorgenden konnte er die Zeit dank des phosphoreszierenden Zifferblatts erkennen. Er sah sie genau vor sich, die Jahre hatten es ebenso eingebrannt wie das Gesicht seiner Frau. Es war ein schweizer Fabrikat, und er hatte es immer gut gepflegt, genau wie sein Vater. Er war dankbar für die Erziehung, die er genossen hatte. Sie war der granitene Eckpfeiler seines Erfolges. Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit. Ohne diese Eigenschaften hätte ein Mensch wie er im Geschäftsleben nicht bestehen können. Im Gegensatz zu seinem Vater fehlten ihm Mut und die Geschicklichkeit der Konversation. Sag doch auch mal was, immerfort brütest du vor dich hin – wie oft hatte er diesen Satz aus dem Mund seiner Frau gehört? Seine Frau. Wie es ihr jetzt wohl gehen mochte? Bestimmt hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan und am Bett ihrer beider Tochter gewacht. Nein, Tränen würde sie keine vergossen haben, die letzten Jahre hatten sie versiegen lassen. Die Art und Weise, wie sie sich in den wenigen Sekunden des Abschieds an ihn geschmiegt hatte, ließ nun, da er sich die Szene vergegenwärtigte, seinen Körper vor Seelenschmerz erbeben. Ihre Augen strahlten ein Verlangen aus, als wolle sie sein Gesicht für die Ewigkeit in sich aufsaugen. Sie hatte Abschied genommen. Von ihm. Vom gemeinsamen Leben. Ihrer Zukunft, die schon lange keine mehr war, keine mehr sein konnte. Nicht in diesem Land, das sie doch immer als Heimat betrachtet hatten. Eine Endgültigkeit hatte in ihrem Blick gelegen, die für einen kurzen Moment alle Zuversicht in ihm erlosch. Dabei gab es sie doch noch, diese Hoffnung. Jeder sprach doch davon, auch wenn die Stimmen leiser wurden. Nur Pessimisten oder solche, die sowieso an Depressionen litten, trugen den Tod auf ihren Zungen.
Doch der Mann nur wenige Zentimeter neben ihm war der Beweis für ihre Brutalität. Ob er vielleicht doch noch lebte? Dies herauszufinden hätte eine enorme Willensanstrengung vorausgesetzt. Er würde ihn berühren müssen. Doch was hätte er davon? Keinen Deut würde es seine eigene Lage verbessern. Das einzige, was von nun an zählte, war, das eigene Leben zu erhalten, so schwierig es seit der Nacht, in der ihre religiösen Stätten ein Raub der Flammen geworden waren, auch war. Das war er seiner Familie schuldig. Zum ersten Mal seit seiner Verhaftung konnte er die Tränen nicht zurückhalten. Er weinte lautlos.
Kurz darauf drangen die ersten Geräusche des beginnenden Arbeitstages durch die Betondecke über ihm. Sie beruhigten. Ein Anflug von Normalität, nach der sie sich alle so sehr sehnten. Mit dem Aufschlag seiner Jacke trocknete er sich die Tränen. Von links drang ein Stöhnen an sein Ohr. Sicherlich einer, der getrödelt oder sonstwie Unmut auf sich gezogen hatte. Er selbst hatte die Anordnungen wohl zu ihrer Zufriedenheit befolgt. Fünf Minuten hatten sie ihm gegeben, und daran hatte er sich penibel gehalten. Sogar derjenige der drei Peiniger, der mit harscher Stimme die Befehle brüllte, hatte gelächelt, als er noch weit vor Ablauf der Frist mit gepacktem Lederköfferchen die Treppe heruntergestolpert kam. Die Frage, was denn nun mit ihm geschehen würde, hatte er sich wohlweislich verkniffen. Sie waren unberechenbar. Zumindest das hatten ihn die letzten Jahre gelehrt. Mit der Zeit hatte sich seine Menschenkenntnis sublimiert. Obwohl er sich auch darauf nicht verlassen konnte. Allzuoft steckte hinter einem Lächeln ein Charakter, der Freude am Drangsal anderer empfand. Und auch der militärische Rang war kein Gradmesser, welche Behandlungen zu erwarten waren. Schergen taten sich groß, und Führungskräfte ließen Milde walten. Oder eben umgekehrt. Nur die Augen verrieten manchmal ihre Absichten. Doch dafür mußte man ihnen sehr nahe kommen. Und Nähe
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