Die letzte Flucht
kann ich nicht allein entscheiden, da muss ich meinen Aufsichtsratschef befragen – so lauteten seine Standardfloskeln. Diese Lieferfrist kann ich unmöglich einhalten, wir müssten andere Kunden benachteiligen, sagte er, obwohlgenügend Waren auf Lager waren. Kann ich irgendwo ungestört mit meinem Lagerleiter telefonieren? Wenn er dann allein in einem Raum war, rief er seine Kinder an oder Susan im Londoner Büro und redete ein paar Minuten mit ihnen. Dann ging er kopfschüttelnd in die Verhandlung zurück. »Ausnahmsweise«, sagte er dann. »Und mein Entgegenkommen muss unter uns bleiben.«
Wenn dann die wirklich wichtigen Dinge verhandelt wurden, meist war das der Preis, schaltete Assmuss um. »Ich habe Ihnen jetzt bei fünf wichtigen Punkten nachgegeben. Wir wollen doch eine langjährige Partnerschaft begründen. Jetzt müssen Sie mir entgegenkommen.«
Es klappte fast immer.
»Ich kann Ihnen natürlich keine Firmengeheimnisse verraten«, sagte er zu dem Maskierten.
»Sie werden meine Fragen beantworten.«
Assmuss witterte eine erste Verunsicherung bei dem maskierten Mann.
»Vielleicht sollten wir erst mal eine Liste mit Fragen erstellen. Fragen sammeln. Dann bringen wir sie in eine Reihenfolge …«
»Was verkaufen Sie?«
»Was ich verkaufe? Das fragen Sie mich? Ich vertrete ein Unternehmen, das Arzneien herstellt und vertreibt. Ich verkaufe Medikamente.«
Assmuss fühlte sich plötzlich überlegen.
Der Mann hatte keine Ahnung. Vielleicht war es ein Irrer. Er würde behutsam mit ihm reden. Ihn überreden, ihn freizulassen. In Gedanken sah er sich wieder auf einer Pressekonferenz, und er hörte sich zu der dunkelhaarigen Journalistin sagen: Ich habe den Täter überzeugt, aufzugeben. Es ist mir gelungen …
Ich muss den Irren hinhalten, bis die Polizei hier ist.
»Ich frage Sie noch einmal: Was verkaufen Sie wirklich?«
Assmuss blinzelte.
Er verstand die Frage nicht.
»Medikamente. Soll ich Ihnen die Namen sagen? Pertrulacon, Mezanin …«
Der Maskierte sah ihn an.
»Glauben Sie mir nicht? Dann sehen Sie doch ins Internet. Ich habe einen Wikipedia-Eintrag. Lesen Sie ihn.«
Der Entführer stand auf.
»Wie Sie wollen. Sie haben einen weiteren Tag Zeit, sich die Antwort zu überlegen.«
Assmuss blieb keine Zeit zu reagieren.
Er war wieder allein.
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7. Supercomputer
»Also, jetzt erzähl mir doch bitte, was dich beschäftigt, wenn ich nicht da bin«, sagte Georg, als er wieder bei Olga im Bett lag.
»Na, komm mit«, sagte sie, stand auf und lief nackt ins Nebenzimmer.
Dengler seufzte und folgte ihr.
»Das sind zwei Rechner«, sagte sie. »Der erste ist ein ganz normaler Rechner.«
»Auf ihm habe ich vorhin den Flug nach Berlin gebucht.«
»Der zweite Rechner hinterlässt keine Spuren – beziehungsweise, er verwischt sie gleich wieder hinter sich.«
Sie setzte sich an die Tastatur.
Dengler fuhr ihr sanft mit der Hand über die Brüste.
»Nicht. Später. Ich muss mich konzentrieren. Schau her.«
Wieder tippte sie etwas ein. Unverständliche Zeichen flossen von einer Bildschirmseite auf die andere. Das Logo der Deutschen Bahn tauchte kurz auf, flackerte ebenfalls überden Bildschirm. Ein Passwort wurde verlangt. Der Rechner arbeitete – und war plötzlich einen Schritt weiter. Das Symbol eines Ordners erschien. Olga klickte darauf. Mehrere Dateien wurden aufgelistet.
»Olga, was machst du? Das ist doch nicht legal.«
Sie drehte sich um.
»Ich hab mal das Gerede von Martin überprüft. Ich hab ihm nicht geglaubt, dass die Bahn in Stuttgart nur Mist baut.«
»Olga, um Gottes willen, was heißt denn: du hast überprüft?«
»Wir sind hier« – sie deutete auf den Bildschirm – »auf einem Server der DB Projektbau GmbH, eine Tochterfirma der Deutschen Bahn. Und das hier« – sie öffnete eine Datei – »ist eine interne Studie der Deutschen Bahn. Schau her, die Überschrift lautet: ›Chancen und Risiken‹. Sie listet die Risiken für Stuttgart 21 auf, bewertet sie nach der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts und nennt die voraussichtlichen Kosten. Guck mal, die Ingenieure listen 121 Risiken auf – und eine Chance! Hier zum Beispiel steht, dass mehr Grundwasser abgepumpt werden muss als geplant. Fast doppelt so viel. Damit wird der Druck auf die unteren Gesteinsschichten reduziert, unter denen das Stuttgarter Mineralwasser liegt. Sie wissen nicht, ob diese Gesteinsschichten dann noch stabil sind. Wenn sie brechen, ist es vorbei mit dem Mineralwasser. Guck mal,
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