Die letzte Flucht
Lokal, das der Vater der Preise wegen niemals besucht hatte): Nie redeten sie über seinen Beruf. Die Enttäuschung, die er seinem alten Herrn bereitet hatte, hätte er gern aus der Welt geschafft, sie war, so dachte er manchmal, der eigentliche Stachel, der ihn in seinem jetzigen Beruf so unentwegt antrieb.
Aber er enttäuschte auch seine Mutter. Sie hatte ihr Leben dem Ziel gewidmet, aus dem einzigen Sohn einen Künstler zu machen. Ihr war das Künstlerische nicht gegeben. Sie wusste es, denn sie malte auch. Mit großer Begeisterung spannte sie eine leere Leinwand in den Rahmen – und betrachtete mit der immer gleichen Enttäuschung das fertigeBild: Wie ein Kind, dachte sie, ich male wie eine Vierzehnjährige. Nie gelang es ihr, die Bilder, die sie manchmal klar, manchmal diffus in sich trug, angemessen auf die Leinwand zu übertragen. Ihr Sohn sollte es besser können. Und so schleppte sie ihn von klein auf in Museen und auf Vernissagen, in Ausstellungen und Ateliers.
Assmuss studierte Biologie an der Universität Hohenheim, medizinnah einerseits, aber inhaltlich und geografisch weit genug entfernt vom heimatlichen Brühl und dem stummen Vorwurf des Vaters sowie der Enttäuschung der Mutter, der alles im Gesicht stand und die nie darüber sprach. Nach dem Studium zog er ins Rheinland zurück. Mit dem ruhigeren Menschenschlag im Süden war er nie richtig warm geworden.
1980 unterschrieb er bei Bayer seinen ersten Arbeitsvertrag, zehn Jahre später schickte ihn der Konzern als Geschäftsführer einer Tochterfirma nach Japan. 1995 wechselte er zu Bayers Konkurrenten Peterson & Peterson , leitete von London aus deren Geschäftsfelder Pharma und Consumer Care. Seit 2000 war er für das europaweite Pharmageschäft mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln verantwortlich. Und er war, wie gesagt, auf dem Sprung nach ganz oben.
In Berlin hatte er ein Problem zu lösen.
Der deutsche Interessenverband funktionierte nicht mehr. Assmuss hatte mit Marlene Kritzer, der Geschäftsführerin des Verbandes der forschenden Pharmaunternehmen VFP , im Margaux zu Mittag gegessen. Anschließend hatten sie noch zwei Stunden in ihrem Büro am Hausvogteiplatz gesprochen.
Sie war unbelehrbar.
Assmuss ärgerte sich.
Sie machte zu viele Fehler.
Und sie überschätzte sich.
Wochenlang hatte die Kritzer die gesamte Lobbymaschine des Verbandes eingesetzt, um die Wahl des gesundheitspolitischen Sprechers der konservativen Parlamentsfraktion zu beeinflussen. Sie hatte einen verbandsnahen Abgeordneten durchbringen wollen und scheiterte damit. Der neue Sprecher äußerte sich nun öffentlich und halböffentlich abfällig über den Verband und damit auch über die »Großen Sechs«, über Peterson & Peterson, Bayer, Pfizer, Böhringer, Merck und Novartis , die im Verband den Ton angaben.
Das war schlecht fürs Geschäft.
Schlecht für die Pläne von Peterson & Peterson .
Schlecht für seine Pläne.
Sehr schlecht.
Ihn ärgerte besonders, dass Marlene Kritzer ihren Fehler nicht einsah.
Mangelnde Fähigkeit zur Selbstkritik produziert weitere Fehler, dachte Assmuss, während er vorsichtig den eisglatten Bürgersteig Unter den Linden hinaufging.
Er hätte ein Taxi nehmen sollen.
Er hatte der Kritzer viel nachgesehen. Vor einigen Monaten hatte die gesamte Presseabteilung des Verbandes gekündigt. Alle. Sogar die Schreibkräfte. Sie hielten es mit der Chefin nicht mehr aus. Sie würde die Angestellten tyrannisieren, hieß es, jeder müsse zu viele unbezahlte Überstunden machen, die Atmosphäre sei miserabel, die Chefin launisch und so weiter. Jeder, der die Kritzer kannte, wusste, dass die Leute recht hatten. Damals hatte er Kritzer gestützt. Damals war sie noch erfolgreich gewesen. Aber das hatte sich geändert.
Assmuss wusste, wann es Zeit war zu handeln.
Eine seiner Stärken.
Ihn fror.
Weihnachtliche Stimmung in Berlin. Er nahm sie nicht wahr.
Es stand viel auf dem Spiel.
Zwei Weihnachtsmänner kamen ihm entgegen. Einer trug einen schweren braunen Sack, der andere eine überdimensionierte Schelle. Die beiden unterhielten sich angeregt, ihre Weihnachtsmannschicht schien zu Ende zu sein. Sie wirkten entspannt und fröhlich.
Morgen um zehn Uhr würde die Verbandskonferenz beginnen. Die Elite der Branche traf sich zur zentralen Jahrestagung. Fünfunddreißig Unternehmen, keines unter 2 Milliarden Jahresumsatz. Aber für heute Abend hatte er die Vertreter der Großen Sechs zum Essen ins Adlon geladen. Dieser Kreis würde die
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