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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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SONNTAG
    Nichts schmeckt so gut, wie Dünnheit sich anfühlt
    Wie fast jeden Sonntag bei gutem Wetter hatten die Gäste des Cafés «Pustekuchen» sämtliche Stühle nach draußen geschleppt und gluckten nun in viel zu großen Gruppen an viel zu kleinen und noch dazu wackligen Bistrotischen. Normale, große und extragroße Spezialfrühstücke gaben sich auf Tischplatten in Größe DIN A3 ein beengtes Stelldichein. Um das fragile Gleichgewicht nicht zu gefährden, galt es, Besteck, Teller und Tassen wie beim Mikado langsam und vorsichtig in eine nicht einsturzgefährdete Parkposition zu bugsieren. Mühsam, egal, denn es war Sonntag, der einzige Tag der Woche, auf den es sich zu freuen lohnt. Einige Gäste schienen regelrecht vorgehungert zu haben: Vor Appetit bebende Hände pulten gekochte Eier auf, schmierten daumendick Konfitüren auf ofenwarme Baguettebrötchen und belegten großzügig die belastbaren Vollkornbrotscheiben. Carpe diem. Eine Scheibe Käse, eine Scheibe Wurst. Dazwischen ein Stängelchen Petersilie oder ein Tomatenachtel. Und obendrauf eine Silberzwiebel. Im Hintergrund Chill-out-Musik. Die Leute aßen und aßen und aßen. Ihre Augen glänzten vor Appetit. Ab Mittag wurde das Angebot um Quiches,Croques, Suppen, Salate und ein vegetarisches Pastagericht ergänzt. Brunch as brunch can. Nachmittags Saisonkuchen, der passt immer noch rein. Wer sich einen Tisch gesichert hatte, gab ihn bis zum späten Nachmittag/​frühen Abend nicht auf, da konnte es so heiß sein, wie es wollte.
    Und es war heiß. Ein stabiles Azorenhoch hielt den Kontinent seit Wochen in tropischer Umklammerung. Nach dem verregneten Mai und dem bibberkalten Juni hatten sich die Menschen Mitte Juli noch über das unerwartete Comeback des Sommers gefreut, der putschartig die Herrschaft an sich gerissen hatte. Doch nach fünf Wochen schönen Wetters begann sich die Hitze in etwas Feindliches zu verwandeln. Es war, als hätten sich unter die lieben Sonnenstrahlen Mikrowellen oder kurzstrahlige Lichtschübe gemischt, bereit, den Körper bis zur molekularen Ebene unheilvoll zu durchdringen. Schneidbrennende Drecksscheibe. Das ganze Land war wie angezündet. Nach vielen Jahren war es in der Lüneburger Heide wieder zu Waldbränden gekommen, und in einem Altersheim bei Elmshorn hatte sich ein achtundsiebzigjähriger Mann aus dem dritten Stock in den Tod gestürzt, weil es selbst nachts nie kühler als 25   Grad wurde. Die
Bild-
Zeitung schürte die Angst vor dem drohenden Armageddon («Mördersommer – schon mehr als 1000   Hitzetote», «Bald Sahara an der Elbe?», «Wann explodiert die Sonne?») mit dem gleichen Erfindungsreichtum, mit dem sie sonst die pornographischen Phantasien ihrer Leser bedient. Ungefähr eine Woche sollte es noch so bleiben. Mindestens. Vielleicht auch zwei.
    Obwohl für mich als Freiberufler der Sonntag ein Tag wie jeder andere ist, verbringe ich die Zeit zwischen halb zwölf und halb eins regelmäßig im «Pustekuchen», da es zu Hause allein doch etwas trostlos ist und ich meinem an Ritualen armen Leben auf diesem Wege außerdem zu so etwas wie
Struktur
verhelfe. Struktur vortäusche. Struktur, Taktung, Rituale usw. Außerdem belausche und beobachte ich gern Menschen. Na ja, das sagen viele von sich, aber ich behaupte, dass meine Beobachtungen
genauer
sind. Da ich erst spät komme (halb zwölf ist ja nun wohl objektiv spät), muss ich mich fast immer irgendwo dazusetzen. Als Dazusetzer ist man unbeliebt, weil die anderen ja gerade extra früh aufgestanden sind, um sich die Tageshoheit über einen eigenen Tisch zu sichern, Exklusivnutzung im Kreis der Lieben. Dazusetzer zählen nicht zum Kreis der Lieben, Dazusetzer sind eine Bedrohung, dreiste Provokateure, die die fröhliche Stimmung durch ihre bloße Anwesenheit kaputt machen und manchmal sogar noch was auf den Tisch stellen (Mikadoeffekt). Sobald sich ein potenzieller Dazusetzer nähert, nehmen die Tischrechteinhaber daher instinktiv eine Art Drohhaltung ein: Sie spannen den Körper an, verengen die Augen zu Schlitzen und ziehen den Kopf zwischen die Schultern, bis sie in etwa so aussehen wie giftige Dschungelfrösche, die aus dem Zustand völliger Bewegungslosigkeit unvermittelt einen Riesensprung machen und ihre Opfer mit einem einzigen Haps verputzen können. Ich tu natürlich immer so, als würde ich das nicht bemerken, und setze mich, extra ohne zu fragen, dazu. Nur an manchen Tagen fehlt es mir an Energie, Power, Mut, Entschlossenheit,Chuzpe; dann

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