Die letzte Lagune
ihn aufmerksam.
In diesem Moment sah Tron, wie zwischen Bossis Fingern etwas zu
schimmern begann, ein rötlicher Schein, der langsam heller
wurde und dann pulsierend erlosch, nachdem er ein paar Sekunden
lang die Farbe einer Kirschfüllung angenommen hatte. Zugleich
erfasste ihn ein leichter Schwindel. Er schwankte und musste sich
auf dem Boden mit den Händen abstützen.
«Commissario?» Bossi
sah ihn besorgt an. «Geht es Ihnen nicht
gut?»
Tron atmete zweimal
tief durch und wagte erneut einen vorsichtigen Blick auf den Kelch.
War am Ende er es, der hier den Verstand verlor?
Würde das Schimmern womöglich wieder zu sehen sein?
Vielleicht zur Abwechslung in der Farbe eines Vanillesouffles? Nein
- das Schimmern war nicht mehr zu sehen. Der Ispettore hielt
lediglich ein altes Glas mit einer matten, zerkratzten
Oberfläche in den Händen. Der Prototyp des Eisbechers
Marke Old
Europe, der
nach dem Einbruch Petrellis im Palazzo Tron verschwunden war, hatte
wesentlich eindrucksvoller ausgesehen. Tron räusperte sich und
sagte: «Was ist, Bossi? Haben Sie etwas erkennen können?
Oder ein Vibrieren gespürt?»
Bossi schüttelte
den Kopf. «Ich glaube nicht. Weder das eine noch das
andere.» Es war schwer zu entscheiden, ob der Ispettore
enttäuscht oder erleichtert war. Jedenfalls zeigte die Frage,
die er dann stellte, dass er keineswegs den Verstand verloren
hatte.
«Ich frage
mich», sagte Bossi, indem er das Glas wieder absetzte und
ebenfalls zweimal tief durchatmete, «warum Flyte den Kelch
hier in seinem Versteck gelassen hat.»
«Weil der Kelch
in der Casa
dei Tuffi sicherer aufgehoben ist als in
Venedig», sagte Tron. «Weil es klüger ist, ihn
erst kurz vor seiner Abreise nach England aus dem Versteck zu
holen. Hier ist das Glas fast siebenhundert Jahre unentdeckt
geblieben.»
«Aber weshalb
hat er alle Spuren, die er beim Ausgraben hinterlassen hat, so
sorgfältig getilgt?»
«Wahrscheinlich»,
sagte Tron, «weil er nicht ausschließen konnte,
irgendwann auf meine Hilfe angewiesen zu sein.»
«Sie meinen, er
hätte Sie um Hilfe bei der Bergung des Kelches
gebeten?»
Tron nickte.
«Unter bestimmten Umständen schon. Und für diesen
Fall brauchte er ein unberührtes Versteck. Übrigens hatte
die Principessa bei unserer ersten Begegnung im Palazzo Tron das
Gefühl, dass Flyte uns etwas verschwieg. Jetzt wissen wir,
dass sie recht hatte.»
«Was machen wir
jetzt?»
«Wir nehmen das
Glas mit und fügen die Bodenplatte wieder ein», sagte
Tron.
«Soll Contarini
morgen auf ein leeres Versteck stoßen?»
Tron schüttelte
den Kopf. «Natürlich nicht. Wenn Contarini ein leeres
Versteck findet, wird er sehr schnell herausfinden, dass wir ihm
zuvorgekommen sind. Womöglich lässt er dann das
Arrangement in der Bigamie-Geschichte platzen. Dann wird Spaur uns
durch den Wolf drehen.» Tron erhob sich. «Wir machen
das, was schon Zanetto Tron vor siebenhundert Jahren auf der
Galleante getan hat.»
«Wir ersetzen
das Glas durch ein anderes?»
Tron nickte.
«Contarini kann frühestens um eins mit der Bahn in
Fusina ankommen. Dann dauert es mindestens eine Stunde, bis er hier
ist. Wenn wir vier Stunden brauchen, um das falsche Glas zu
vergraben und alle Spuren zu beseitigen, sollten wir morgen
spätestens um zehn Uhr damit anfangen.»
«Also
müssen wir den Zug nehmen, der kurz nach acht in Fusina
ist.»
«Genau,
Bossi», sagte Tron. «Und jetzt sollten wir
verschwinden.» Er wickelte sich seinen Schal vom Hals und
reichte ihn dem Ispettore.
Bossi schlug das Glas
sorgfältig in den Schal ein. Dann stand er auf und hielt das
Bündel so vorsichtig, als würde er einen Säugling
auf den Armen tragen. «Was machen wir eigentlich mit dem
Glas?», wollte er auf einmal wissen. Bossi hatte Glas und nicht Gral gesagt - was
zweifellos auch daran lag, dass ihm der bizarre Lichteffekt
entgangen war.
Gute Frage, dachte
Tron. Was macht man mit einem Glas, bei dem es sich womöglich
um den Gral handelte? Wo bewahrte man es auf? Stellte man es, der
Tarnung wegen, zu den Andenkenbechern, auf denen Gruß aus
Wien stand?
Mit einer hinzugefügten Gravur Gruß aus
Jerusalem ?
Nahm man es dann gelegentlich zur Hand? Bei Krankheiten und
ehelichen Differenzen? Und dann die heikle Frage, die sich Tron als
Jurist sofort stellte: Wem gehörte das Glas eigentlich?
Gehörte es Bossi oder ihm?
«Vielleicht
sollten wir das Glas erst mal im Palazzo Balbi-Valier
unterbringen», meinte er nebenhin. «Und dann sehen wir
weiter.»
Aus den
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