Die letzte Lagune
Augenwinkeln
schielte Tron zu Bossi hinüber. Protestierte der Ispettore?
Nein - offenbar übersah er die Problematik. Er
äußerte nur: «Und was sagen wir der Principessa?
Sie wird Ihnen doch Fragen stellen,
Commissario.»
«Wir
erzählen ihr das, was wir wissen», sagte
Tron.
«Und was wissen
wir?»
«Dass es sich um
ein Glas handelt, das in den letzten zwei Wochen zum Tod von drei
Menschen geführt hat», antwortete Tron, der immer noch
mit der Eigentumsfrage beschäftigt war. Und setzte aus diesem
Grund schon vorsorglich hinzu: «Was immer dieses Glas ist -
es scheint tatsächlich Unglück zu
bringen.»
Bossi warf einen
ängstlichen Blick auf das Bündel, das er dicht an seinem
Körper hielt. «Wann ist Enrico Dandolo eigentlich
gestorben?»
«Noch
während des vierten Kreuzzugs», sagte Tron. «Der
Doge ist nie nach Venedig zurückgekehrt. Sein Grab befindet
sich in der Hagia Sophia.»
Der Ispettore hielt
das Bündel mit dem Glas unwillkürlich eine Handbreit von
sich weg, und Tron musste lachen. «Lassen Sie den Kelch nicht
fallen, Bossi.»
*
Als sie zwei Stunden
später Fusina erreichten, war es bereits dunkel. Diesmal
hatten sie in Ermangelung einer Kutsche mit einem einfachen
Fuhrwerk vorliebnehmen müssen, das Reis nach Venedig
transportierte. Aber auf den Säcken konnte man sich bequem
ausstrecken, und die große Plane, die zeltähnlich
über die Ladefläche gespannt war, schützte
erstaunlich gut gegen die Kälte. Tron, der aus dem Wagen
spähte, als sie auf den Vorplatz des Bahnhofs rollten, sah,
dass der Platz noch belebter war als am Mittag. Überall
standen Planwagen, aus denen Soldaten im Fackelschein Kisten und
Säcke abluden. Viele kaiserliche Offiziere trugen zum Schutz
gegen die Kälte Pelzmützen, was der Versammlung einen
Einschlag ins Russische gab.
Schließlich
hielt ihr Wagen an. Und dann geschah alles so schnell, dass Tron
später Schwierigkeiten hatte, den genauen Ablauf zu
rekonstruieren. Er war als Erster über die Reissäcke
hinweg aus dem Fuhrwerk gestiegen und von der hinteren Klappe des
Wagens über eine Kiste geklettert, die der Kutscher dort
hingestellt hatte, um den Abstieg zu erleichtern. Als Bossi auf der
hinteren Klappe stand und ebenfalls über die Kiste
hinabklettern wollte, gingen plötzlich die Pferde durch. Das
Fuhrwerk machte einen Satz, Bossis Beine wurden ruckartig nach
hinten gerissen. Sein Oberkörper kippte nach vorne, und der
Ispettore stürzte dem Eis des Bahnhofsvorplatzes entgegen.
Normalerweise hätte er die Arme ausgestreckt, um den Sturz zu
mildern. Aber Bossi brachte es fertig, sich im Fallen gegen alle
Instinkte auf den Rücken zu drehen, um das kostbare
Bündel, das er vor der Brust hielt, nicht zu gefährden.
Dann landete er mit einem Schrei, der sich mehr kläglich als
laut anhörte, hart auf dem Eis. Als Tron neben dem Ispettore
niederkniete, sah er helles Blut aus einer Wunde an der
Schläfe herausströmen und auf das Eis laufen. Bossi Kopf
war in einem unnatürlichen Winkel seitlich verdreht, seine
geöffneten Augen waren starr. Aber das kleine, in Trons Schal
gewickelte Bündel auf seiner Brust war unversehrt.
53
Das Soufflé
schmeckte nicht. Das hatte Tron im Palazzo Balbi-Valier noch nie
erlebt. Es handelte sich um ein puderzuckerbestäubtes soufflé au
citron étoilé, das mit sechs dünnen Streifen
aus der Schale der Zitrone dekoriert worden war und das Moussada im
Laufschritt aus der Küche ins Speisezimmer befördert
hatte. Selbstverständlich zugluftgeschützt unter einer
silbernen Haube, sodass das zarte Gebilde nicht auf den Gedanken
kommen konnte, nach dem Servieren schmählich zusammenzufallen.
Aber das Soufflé schmeckte ebenso wenig wie der Cliquot, den Massouda dazu
serviert hatte und bei dem Tron an Vittorio Knarzens Clicco denken musste.
Wahrscheinlich - nein, ganz bestimmt -, dachte Tron, lag es einfach
an der Geschichte, die er der Principessa eben erzählt hatte:
das tragische Ende eines dienstlichen Einsatzes. Da bekam alles
einen unangenehmen Beigeschmack.
«Weiß
Bossis Mutter Bescheid?», erkundigte sich die Principessa,
nachdem Tron seinen Bericht beendet hatte. Sie trug ein elegantes
Hauskleid aus schwarzer Kaschmirwolle, das allerdings heute Abend -
so wie die Dinge lagen - stark nach halbmast aussah.
Tron nickte.
«Ich bin bei ihr vorbeigegangen. Sie wird Bossis Verlobte,
Signorina Belli, benachrichtigen.»
«Dann hat sich
ja die düstere Prophezeiung dieses Priesters wieder
bewahrheitet», meinte
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