Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
sicher, dass es eine gute Idee gewesen war. Sie runzelte vor Konzentration die Stirn. Dann fielen ihr wie durch Magie die Worte ein, und sie sprach sie mit lachender Stimme.
»Wo steckt Meister Tharkis? Wo mag er nur hocken …
Horcht, dort bimmelt das Ärgernis,
Es ist das Läuten seiner Glocken.
Doch so flink er auch ist, seiner Zunge Biss,
Mag er noch so sehr darüber frohlocken,
Sollte er niemals vergessen die Finsternis
Der Kerkerzelle, die er sich noch damit wird einbrocken.«
Aryn konnte ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken, als Lirith sie anstarrte. Es war kein schlechter Reim, wenn sie es recht bedachte.
Offensichtlich stimmte ihr Tharkis zu, denn der Narr stotterte und riss an seiner Mütze, sodass eine Strähne dünnen Haares entkam.
»Kommt schon, Narr«, sagte Aryn. »Ihr seid dran.«
»Muss ich auf meinen Knien flehen? Einen Moment, meine Jungfer – bitte, Ihr könnt jetzt nicht gehen.«
Tharkis wandte sich dem Alkoven zu, krümmte den Rücken und murmelte vor sich hin. Aryn verschwendete die Chance nicht. Da der Weg frei war, packte sie Liriths Hand und lief in den Korridor.
Sie hatten bereits eine Ecke umrundet, als hinter ihnen ein schriller Aufschrei ertönte. Der Laut trieb sie an, bis sie schließlich stehen bleiben mussten und nach Atem ringend und lachend gegen eine Wand sackten.
Aryn wischte sich Tränen aus den Augen. »War er wirklich einst ein König, wie man sich erzählt? Wenn ich ihn sehe, kann ich es nie glauben.«
Lirith richtete ihre schwarzen Haarrollen. »Das war er tatsächlich, Schwester. Tharkis hat die Domäne von Toloria viele Jahre lang regiert. Aber eines Tages stürzte er bei der Jagd vom Pferd und schlug sich den Kopf an einem Stein an. Als er erwachte, war er so, wie er jetzt ist. Ich fürchte, sein Verstand wurde hoffnungslos zerrüttet.«
Aryn hatte die Geschichte gehört. König Tharkis hatte weder Frau noch Erben, und nach seinem Unglück wurde Toloria vom Krieg heimgesucht, als verschiedene Barone um den Thron kämpften. Wäre nicht Ivalaine gewesen – eine entfernte Nichte Tharkis’, die es nur wenige Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag geschafft hatte, die Barone zu vereinigen –, wäre die Domäne möglicherweise für immer entzweit geblieben.
»Also ist Tharkis wirklich wahnsinnig«, sagte Aryn. »Doch es scheint so hartherzig zu sein, ihn auf diese Weise leben zu lassen. Ein Mann, der König war, sollte nicht der Hofnarr sein.«
»Wäre es denn weniger hartherzig, ihn oben in einem Turm einzusperren, wo ihn niemand zu Gesicht bekommt? So ist er jetzt nun mal. Und ich glaube, dass es ihm irgendwie sogar Spaß macht.«
Lirith hatte natürlich Recht. Trotzdem hatte Tharkis etwas an sich, das äußerst beunruhigend war. Je weniger Aryn mit ihm zu tun hatte, desto besser.
»Kommt«, sagte Lirith. »Die Königin erwartet uns.«
»Um uns auszuschimpfen«, sagte Aryn mit einem Grinsen.
Als sie sich den Gemächern der Königin näherten, verbeugte sich ein Wächter vor ihnen.
»Myladys, ihr dürft eintreten.«
Aryn und Lirith wechselten einen schnellen Blick, und ihre Heiterkeit verschwand, als sie durch die Tür traten.
»Solcher Ungehorsam kann nicht geduldet werden«, sagte eine Stimme, die so klar und hart wie ein Diamant war.
Aryn erstarrte. Wollte die Königin sie nicht einmal begrüßen, bevor sie sie zur Rede stellte? Eine hastige Entschuldigung lag ihr auf den Lippen, aber bevor sie den Mund öffnen konnte, ertönte eine scharfe Stimme in ihrem Geist.
Still, Schwester. Gesteht Euer Verbrechen nicht, bevor Ihr danach gefragt wurdet. Die Königin spricht nicht mit uns.
Aryn biss sich auf die Zunge. Sie hatte sich noch immer nicht an Liriths Fähigkeit gewöhnt, ohne Worte zu sprechen. Diese Fertigkeit hatte sie noch immer nicht meistern können. Doch ihre Überraschung wich Erleichterung, als sie sah, dass Lirith Recht hatte.
Der Empfangsraum der Königin war geräumig und wurde auf der einen Seite von hohen Fenstern gesäumt, die in hundert kleinen Scheiben das Licht des aufgehenden Mondes einfingen. Königin Ivalaine stand in der Mitte des Gemachs und überragte einen schmalen jungen Mann, der den Kopf hängen ließ; sein langes schwarzes Haar verbarg sein Gesicht. Neben ihm stand Lady Tressa, die pummelige, hübsche, rothaarige Beraterin der Königin: ihr Ausdruck war zugleich streng und mütterlich. Der junge Mann war der Empfänger der harten Worte der Königin.
»Euch war verboten, die Ställe zu betreten«, fuhr die
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