Die letzte Schöpfung
fünf Tagen – oder vier, wenn man auf die Tube drückte. Sie schafften es in dreieinhalb, und selbst das war für Danny nicht schnell genug. Seine Schwester wartete in der Ferne; sie war krank oder konnte vielleicht sogar spurlos verschwinden wie so viele seiner Freunde…
Ethan tat sein Bestes, um Danny abzulenken. Bevor sie Chicago verließen, kaufte er dem Jungen einen IBM-Laptop. Dann stellte Ethan den Volvo in einer stillen Straße ab und beschaffte sich einen gebrauchten Pick-up, ähnlich dem, den sie in Texas zurückgelassen hatten.
Danach verwischte sich der Unterschied zwischen Tag und Nacht; alles wurde gleichförmig und monoton. Danny erzählte Ethan während der Fahrt alles, was er über Haven Island wusste: Wie viele Lehrer es dort gab, wie viele Ärzte, Studenten, Büroangestellte und sogar Wachmänner. Ethan wollte alles über die Unterrichtspläne und die Tageseinteilung wissen, auch sämtliche persönlichen Dinge, die Danny vom Personal in Erinnerung hatte. Auch über die genaue Lage der Insel und der Gebäude wollte er eine Aufstellung. Deshalb kauften sie einen großformatigen Zeichenblock, und Danny malte während des Erzählens, skizzierte Gebäudegrundrisse und Landmarken der Insel.
Nachts, nach zehn oder zwölf Stunden auf der Straße, suchten sie sich ein Motel und übten sich vor dem Abendessen eine Stunde in Tai Chi. Dieser Teil der schier endlosen, gleichförmigen Tage war für Danny das Größte. Ethan beherrschte Tai Chi noch besser als der Trainer von Haven; er kannte Variationen der traditionellen Übungen und erklärte Danny, wie manche Bewegungen, mit besonderer Kraft ausgeführt, in verschiedene Kampfsportarten eingeflossen waren.
Nach dem Abendessen schloss Danny den Laptop an der Telefonbuchse an und drang ins Computersystem der Insel ein. Doch jemand hatte eine neue Firewall vor den Dateien über die Kinder errichtet, die Dannys Bemühungen behinderte, und er versuchte es mit jeder Hintertür, die ihm einfiel. Doch nichts half. Wer immer die neue Sicherheitsschranke errichtet hatte, kannte sich mit Computern hervorragend aus.
Aber Danny gab nicht auf. Auch wenn er nicht an die vertraulichen Dateien herankam, so fand er doch andere interessante Informationen: Grundrisse und Schaubilder, Stundenpläne und Informationen über das Personal. Er fand sogar Zugang zu Dr. Turners persönlichen Aufzeichnungen, in denen Callies Ankunft und Behandlung im Krankenflügel dokumentiert wurde. Doch die Antwort auf Ethans drängendste Frage konnte er nicht finden: Warum hatte Dr. Turner Callie krank gemacht?
Am Spätnachmittag des vierten Tages erreichten sie Seattle. Rückblickend sagte sich Danny, dass es unter anderen Umständen eine ganz nette Fahrt gewesen wäre. Ethan war in Ordnung – für einen Erwachsenen. Niemals zuvor hatte Danny Zeit mit einem Mann wie Ethan verbracht, der ihn viele Dinge lehrte und ihn wie einen Gleichberechtigten behandelte. Das gefiel Danny.
Dann aber wurde alles anders.
26.
Sydney wartete auf die Kinder.
Sie wusste, dass es zu früh war. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen und warf nur einen schwachen grauen Schein auf die Insel. Die Kinder wurden wohl eben erst von den Wärtern geweckt. Es würde noch ungefähr eine halbe Stunde dauern, bevor sie unten im Hof erschienen.
Sydney hatte sich an dieses kleine Ritual gewöhnt. Jeden Morgen vor Sonnenaufgang gab sie den Versuch zu schlafen auf, schwang sich aus dem Bett und stellte sich ans Fenster. Kurze Zeit später kamen die Kinder ins Freie. Alle zweiundzwanzig. Ihnen bei ihren Tai-Chi-Übungen zuzusehen gab Sydney einen gewissen Frieden. Und verhinderte, dass sie durchdrehte.
Bei diesem Gedanken hätte sie beinahe laut gelacht. Sie war erst vier Tage hier, doch sie erschienen ihr wie vier Monate.
Sydney machte sich allmählich Sorgen um ihren Geisteszustand.
Seit ihrer Ankunft auf der Insel hatte sie Callie nicht mehr gesehen. Avery Cox' Männer hatten sie sogleich getrennt, hatten Callie auf einer Bahre fortgeschafft und Sydney in dieses Zimmer gebracht, das sie verriegelt hatten. Seit diesem Tag hatte sie nur zu einem einzigen Menschen Kontakt, zu einem Wachmann, der ihr das Essen brachte, aber eisig schwieg, wenn sie ihm eine Frage stellte.
Sah man davon ab, dass es keine Gitterstäbe gab, hätte das Zimmer ebenso gut eine Gefängniszelle sein können. Es war sehr klein und spärlich mit Bett, Tisch, Kommode und einem Bad von der Größe eines Schrankes möbliert. Fünf kurze Schritte von
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