Die letzte Visite
mitessen?«
Anna blickte ihn an. Sie verzog keinen
Muskel im Gesicht.
»Danke, Herr Oberarzt. Ich wollte etwas
melden.«
»So melden Sie.«
»Ich weiß nicht, ob Sie das sehr freut,
Herr Oberarzt. Aus dem Giftschrank fehlen zehn Ampullen Morphium. Zehn.«
Ich rührte mich nicht. Die Käseschnitte
unter meiner Nase duftete würzig.
Pinkus kniff die Augen etwas zusammen.
Fräulein Doktor blickte ihn an, schob die Unterlippe vor und goß sich Tee ein.
»Also eine Schachtel«, sagte sie.
»Eine Schachtel«, wiederholte Anna.
Bierstein holte sich die Wurst auf
seinen Teller, bevor er sprach.
»Seit wann?«
»Seit heute nachmittag. Vor dem Essen
waren sie noch da. Ich sehe jeden Tag nach.«
»Ganz genau, Oberschwester?« fragte
Pinkus.
»Ganz genau, Herr Doktor. Wir hatten
sechzehn Schachteln und eine angebrochene mit vier Ampullen. Fünfzehn sind noch
da. Und die angebrochene.«
II
»Na ja«, sagte Bierstein friedlich,
»keine Panik, liebe Gemeinde. Seh’n wir erst mal genau nach. Hat einer von euch
Morphium gebraucht?«
Die Stagg und Pinkus schüttelten gleichzeitig
die Köpfe. Ich sparte mir die Mühe.
»Hm. Wird sich wohl einer von unseren
Kunden das Zeug unter die diebischen Nägel gerissen haben...«
»Der Giftschrank war stets
verschlossen.« Anna schien nichts von der oberärztlichen Theorie zu halten.
»Einen Schlüssel haben nur Sie drei und ich. Doktor Bold hat noch keinen.«
»Ich werde wohl auch keinen brauchen«,
sagte ich verbindlich.
»Na, dann muß einer von uns vieren
schlagartig zum Morphinisten geworden sein«, sagte Pinkus, wobei er sich ein
Brot mit Butter beschmierte. »Oder will langsam einen Großhandel aufbauen.
Achtet auf die Symptome, Kinder, Euphorie, Stichstellen, enge Pupillen. Die
Euphorie habe ich schon. Staggin, Ihre hübschen Pupillen sind äußerst winzig.«
»Ich blicke in die Abendsonne«,
erwiderte das Fräulein Doktor.
»Laßt die dummen Witze«, sagte
Bierstein. »Ihr glaubt gar nicht, was die Brüder für Zicken bauen können.
Machen einen Nachschlüssel aus einer Mundharmonika und bedienen sich.«
»Es ist ein Sicherheitsschloß, Herr
Oberarzt«, knarrte Anna.
»Trotzdem. Spezialisten gibt’s überall.
Wir können nichts machen als die Augen aufsperren. Möglicherweise müssen wir
ein neues Schloß einbauen.«
»Möglicherweise«, sagte Anna, »ist das
gar nicht nötig, Herr Oberarzt.« Irgendwas von Triumph war in ihrer Stimme.
»Vielleicht kann ich mir sehr schnell Gewißheit verschaffen über den Dieb.«
»Das wäre sehr freundlich,
Oberschwester«, sagte Bierstein trocken. »Wir müssen sonst die Geschichte
unserer Hauptniederlassung melden, und das gibt Ärger. Verschaffen Sie sich
Gewißheit. Und bis dahin lassen Sie den Morphiumtresor nicht aus den Augen.«
»Ganz bestimmt nicht, Herr Oberarzt!«
Die Tür klappte. Anna war weg.
»Bißchen dramatisch, was?« Pinkus sah
im Kreis herum. »Sieht fast so aus, als glaubte sie, einer von uns hätte den
Balsam zu sich genommen.«
Bierstein zog wegwerfend die Hand durch
die Luft.
»Ach, Blödsinn. Ist nur sauer, weil ihr
mal was entgangen ist. Wird schon so sein, daß eins unserer Nesthäkchen in
einem unbewachten Moment über den offenen Schrank hergefallen ist. Die können
alles gebrauchen. Ihr glaubt nicht, was ich da schon mitgemacht habe.«
»Hoffentlich wird es nicht zur lieben
Gewohnheit«, sagte die Stagg.
»Keine Sorge«, bemerkte Pinkus mit
halbvollem Mund. »Anna wird in den Giftschrank reinkriechen und drin warten,
bis einer seinen Rüssel reinsteckt. Und wenn sie drei Wochen aushalten muß.«
Bierstein bestätigte das. »Trotzdem ist
es gut, wenn auch wir ein bißchen danach fahnden. Wenn eine Trantute plötzlich
sehr munter wird, kann man wetten, daß er sich eine Spritze in die Ader gejagt
hat.«
»Ich glaub’ noch nicht richtig dran«,
sagte Pinkus. »Sie haben es irgendwo verkramt, und plötzlich ist es wieder da
wie Ziethen aus dem Busch. Irgendeine Schülerin hat die Schachtel für
Hämorrhoidalzäpfchen gehalten und mit zwischen die anderen gepackt, und sie
haben’s erst gemerkt, als sich einer die Ampullen in den Hin...«
»Aber Pinkus!« Das Fräulein Doktor
schüttelte tadelnd ihren Haarknoten. »Was sind das für entsetzliche Reden!«
»Na ja — hundertmal vorgekommen.«
»Weiß ich, weiß ich«, sagte der
Oberarzt. »Würde ich auch glauben, wenn nicht Anna auf dem Zeug säße. Eher
könnte man einer Henne die Eier so unter dem Wanst wegziehen, daß
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