Die letzte Visite
I
Ich sah den Turm auf der Kuppe des
Berges, längst bevor ich die Pforte erreichte. Die obere Hälfte mit der
Zinnenkrone ragte über den Mischwald wie der letzte Zahn im Kiefer eines
Veteranen. Sehr romantisch und märchenhaft. Wenn ich gewußt hätte, was dort
passieren würde, wäre ich in entgegengesetzter Richtung ausgerissen und hätte
mich im Wartesaal verkrochen bis zur Abfahrt des nächsten Zuges.
Im Augenblick hatte ich andere
Probleme. Der Koffer zog an meinem Schultergelenk, als wäre ein zerstückelter
Leichnam darin. Links trug ich einen kleineren und eine Aktentasche. Der
Schweiß floß in lieblichen Kaskaden unter meinem Hemd. Ich pustete, aber ich
verlangsamte den Schritt nicht. Das Mädchen vor mir war die Anstrengung wert.
Hoffentlich verscheuchte sie mein Geschnaufe nicht. Und hoffentlich gehörte sie
zur Besatzung der Zweigstelle.
Mir war rechtzeitig gesagt worden, daß
man mich leider nicht abholen könnte. Der Bahnhof lag im nächsten Dorf, knapp
drei Kilometer entfernt. Schönes Sommerwetter mit flimmernder Luft und Bienen
und so. Und das einem Mann in meiner Stellung.
Das Mädchen trug ein gelbes Leinenkleid
mit hochgekrempelten Ärmeln. Nackte Beine in leichten Sandalen. Mit Ingrimm
gedachte ich meiner Sockenhalter, die feuchte Ringe in die Waden schnürten.
Sie hatte eine etwas kräftige Taille
und schien überhaupt eher ländliche Formen zu besitzen als die eines darbenden
Mannequins. Aber man kam jetzt allgemein wieder mehr auf das Üppige zurück und
wandte sich ab von der Schwindsucht.
Ihr Haar war braun und kurz. Die
Rückenmuskeln spannten sich unter dem Leinen bei jedem Schritt. Soweit ich die
Beine beurteilen konnte, war die Natur mit Wohlwollen verfahren.
Allerdings schien die Gute Strümpfe der
Größe zehneinhalb zu brauchen, wenn sie welche trug.
Ein kräftiges Kind vom Lande. Sie hätte
eigentlich meinen Koffer tragen können.
Jetzt stieg der blödsinnige Weg auch
noch an. Ich gab das Verfolgungsrennen auf, machte Pause und setzte mich auf
den großen Koffer. Oben, am Ende des Pfades, erkannte ich ein hohes Gittertor.
Ein Flügel war geöffnet. Mein Leinenmädchen verschwand hinter den eisernen
Latten und Speerspitzen und aus meinen Augen.
Nach einiger Zeit war ich soweit, die
letzte Etappe angreifen zu können. Der Koffer wog jetzt das Doppelte. Ich
erreichte das Tor. Von beiden Seiten lief eine ebenso hohe Mauer ins Grüne. Die
schienen sich hier auf Belagerung eingerichtet zu haben.
Zu meinem Entsetzen folgte nochmals ein
Vorplatz von rund fünfundsiebzig Metern Durchmesser. Dahinter lag erst das
Haus, dreistöckig, langgestreckt, von verflossener Vornehmheit. Sie hatten es
mir in der Klinik beschrieben. Ich schaffte auch den Hof noch und brauchte
ungefähr die letzten Kräfte, um die Eichentür aufzustemmen. Dann stand ich in
einer Halle zwischen holzgetäfelten Wänden und in einem sanften Dunst von
Drogen und Desinfektion.
Ich entdeckte einen wuchtigen Stuhl,
brachte mein Gepäck dorthin und ließ mich nieder. Langsam kühlte der Schweiß
ab. Meine Schuhe glichen Funden aus Pompeji. Ich hatte weiter nichts als den
Wunsch, hier sitzen zu bleiben und das Jüngste Gericht abzuwarten.
Zunächst schien es bis dahin noch
dauern zu wollen. Es rührte sich nichts zwischen den Mauern. Die Patienten
hatten Bettruhe, aber auch das Personal bewegte sich nicht. Warum auch. In
einer Tuberkuloseheilstätte hat sich noch nie jemand totgearbeitet. Nur ein
Patient starb hin und wieder.
Ich nahm eine Zigarette aus der
modernen Frischhaltepackung. An sich hätte ich irgend jemanden suchen und ihn
von meiner Ankunft unterrichten sollen. Ich war zu schwach. Sollten sie kommen
und mich entdecken.
Das geschah, als zwei Drittel der
Zigarette sich mit den Drogen und der Desinfektion vermischt hatten. Leichte
Füße trippelten hinter einer Tür auf der linken Seite. Ein Schwesterchen kam
heraus, weiß und zart. Sie sah mich erst, als sie auf fünf Meter heran war,
dann aber gründlich. Ihr nettes Gesicht wollte etwas dienstlicher werden, nur
die lustigen Augen waren dem hinderlich.
»Hier dürfen Sie aber nicht rauchen!«
Ihre Stimme sollte ich noch oft hören,
und dann auf einmal nicht mehr.
»Ich dachte es mir, Schwester«, sagte
ich. »Ich habe diesen Koffer getragen, vom Bahnhof Klinga bis zu dem Stuhl
hier. Etwa vierhundert deutsche Meilen. Ich bin zwei Zoll kleiner geworden.
Mein Kreislauf stand still. Da brauchte ich die Zigarette.«
Sie fixierte mich beklommen.
Weitere Kostenlose Bücher