Die letzten Tage
kleinen Restaurant, das etwas abseits der üblichen Touristenpfade lag und deshalb in der Regel nicht so überlaufen war. Heute aber schienen sich sämtliche Urlaubergruppen verabredet zu haben, ins Da Luigi einzufallen. Nur mit Mühe hatte Grazia überhaupt einen freien Platz ergattern können.
Das dichte Gedränge und der Lärm förderten ihre ohnehin schon gedrückte Stimmung nicht gerade. Sie war hergekommen, um in Ruhe über alles nachzudenken.
Wie zum Beispiel über ihren Vater.
Seit Jahren versuchte sie nun schon, die Erinnerungen an ihn aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Nun musste sie erkennen, dass es ihr niemals wirklich gelungen war. Durch die Morde war alles wieder hochgekommen: der Schmerz, die Bitterkeit und die Enttäuschung.
Tränen stiegen Grazia in die Augen, doch sie blinzelte sie weg. Sie wollte seinetwegen nicht weinen, das hatte er nicht verdient. Er war nie für sie da gewesen. Niemals!
Inzwischen konnte sie gut nachvollziehen, warum ihre Mutter damals fortgegangen war. Sie hatte es wahrscheinlich einfach nicht mehr ausgehalten, mit einem Mann zusammenzuleben, der seine Arbeit mehr liebte als alles andere auf der Welt – einschließlich seiner Familie. Was Grazia jedoch nicht verstand war, warum sie sie einfach zurückgelassen hatte.
Energisch schüttelte sie den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen – die Gegenwart bot genug Herausforderungen.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Danach fühlte sie sich wieder ein wenig besser, doch sie wusste, dass der Schmerz dicht unter der Oberfläche lauerte, stets bereit, in einem schwachen Moment erneut zuzuschlagen. Was hatte sie bisher, um ihre Theorie zu stützen? Die Tätowierung der Opfer, die Tatsache, dass sie alle in der Nähe von Orten gefunden worden waren, an denen ihr Vater geheime Versammlungsplätze der Bruderschaft vermutet hatte – und die unerschütterliche Überzeugung, dass sie sich auf der richtigen Spur befand.
Sehr viel war das nicht. Jedenfalls bei Weitem nicht genug, um jemanden zu überzeugen, der nicht dieselbe Erziehung wie sie genossen hatte.
Ihr Vater hatte ihr einen Großteil seines Wissens um die geheime Bruderschaft der letzten Tage eingetrichtert – bis das römische Jugendamt seinem Treiben kurz vor Grazias dreizehntem Geburtstag einen Riegel vorschob und sie in einem staatlichen Kinderheim unterbrachte. Vieles davon war über die Jahre verloren gegangen, aber an die grundlegenden Dinge erinnerte sie sich noch immer. So wusste sie beispielsweise von dem Tattoo und dass die Mitglieder der Vereinigung ein uraltes Heiligtum bewachten, das sie irgendwo in Rom verborgen hielten.
Ihr Vater hatte eine Liste der Personen geführt, von denen er annahm, dass sie mit der Bruderschaft zu tun hatte. Leider konnte Grazia sich nicht mehr an die Namen erinnern.
Reichte das wirklich aus, um diese mysteriösen Morde aufzuklären?
Es musste einfach ausreichen, denn Grazia wusste nur von einer einzigen Person auf der ganzen Welt, die mit der Materie besser vertraut war als sie selbst: ihr Vater. Und ihn würde sie ganz gewiss nicht um Hilfe bitten – niemals!
Dabei gab es durchaus einen Weg, mit ihm in Kontakt zu treten, obwohl er, kurz, nachdem sie ins Heim kam, spurlos verschwunden war.
Wie von selbst wanderte ihre Hand zu dem Umschlag, den sie in der Innentasche ihrer Jacke aufbewahrte. Darin befand sich ein Brief, den sie anonym zu ihrem achtzehnten Geburtstag erhalten hatte. Er enthielt keinen Gruß, kein persönliches Wort – nur eine Telefonnummer und den knappen Zusatz „Für Notfälle“.
Grazia dachte gar nicht daran, diese Nummer jemals zu wählen. Dass sie den Brief immer bei sich trug, hatte auch keine sentimentalen Gründe. Er erinnerte sie nur jeden Tag daran, dass es so etwas wie Liebe und Zusammengehörigkeit in Wahrheit gar nicht gab.
„ Ciao , Grazia. Ist der Platz hier noch frei?“
Grazia blinzelte irritiert, als sie angesprochen wurde. Noch überraschter war sie, Silvio Visconti zu sehen, einen Arbeitskollegen, der, wie sie, erst vor Kurzem ins Dipartimento Cinque gewechselt hatte.
Zuerst wollte Grazia ihn wegschicken, überlegte es sich dann aber doch anders, als ihr klar wurde, wie unhöflich dies wäre. Sie hatte auch so schon nicht gerade viele Freunde im Präsidium, da musste sie sich nicht noch zusätzlich unbeliebt machen.
„Setz dich ruhig“, sagte sie und vollführte eine einladende Geste. „Ich habe dich noch nie
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