Die Liebe der anderen
ich mir die Hausnummer nie merken kann. Was allerdings kein Grund ist, nach ihrem Code zu fragen. Ich gerate ganz schön in Bedrängnis, aber am Ende schreibt sie mir ihre Adresse auf. Sie wohnt immer noch in derselben Wohnung! Es gibt also einen Ort, an dem ich mich notfalls von all den Ereignissen erholen kann.
Ich beschließe, mit dem Bus nach Hause zu fahren. Abgesehen von den neuen Werbeplakaten und dem futuristischen Design der Züge konnte ich auf dem Hinweg mit der Metro keine phänomenalen Veränderungen feststellen. Aber eine Sache hat mich doch erstaunt: Die Welt dadraußen wirkt viel brutaler als früher. Alles ist grau und schwarz, das fängt schon bei der Mode an. Ich frage mich, ob dieses Phänomen nur Paris betrifft oder ob der Rest des Landes auch so trostlos geworden ist. Man könnte meinen, die Leute befänden sich mitten in einem Krieg. Aber in der Zeitung konnte ich kein Wort davon entdecken. Ich drücke mir eine ganze Weile die Nase am Fenster platt. Die Autos sehen anders aus als früher, manche Straßen haben ein neues Gesicht. Doch am meisten fesseln mich die Leute, die Atmosphäre. Ich wundere mich, dass ich vorher nie wahrgenommen habe, welchen Gesamteindruck eine bestimmte Gruppe von Menschen ausstrahlt, oder eine Flucht von Schaufenstern. Mein Blick hat sich gewandelt. Ich entdecke meine Stadt völlig neu, mit den Augen einer Fremden. Und ich bin sicher, dass nicht nur mein Zustand als Außerirdische – oder besser: Außerzeitliche – dafür verantwortlich ist. Was ich hier sehe, ist die Jahrhundertwende. Und die kann ich nur mit solcher Klarheit erfassen, weil ich nach zwölf Jahren Abwesenheit umso präsenter und aufmerksamer bin. Werde ich mit diesem Blick auch mein eigenes Leben betrachten? Es macht mir Angst, mich in ein Leben einklinken zu müssen, das in vollem Gange ist. Als ich die Wohnung aufschließe, kommt ein Nachbar die Treppe herunter und grüßt, und ich zucke vor Schreck zusammen, wie ein ungebetener Gast, der sich Zugang zu einer fremden Wohnung verschafft. Ich trete ein und bin überrascht, dass sich nicht das geringste Gefühl von Vertrautheit einstellt. Ich fühle mich nicht unwohl, weil ich weiß, dass ich hier wohne und dass der Schlüssel zum Verschwinden meines Lebens sich wahrscheinlich in diesen Mauern befindet. Es ist der einzige Ort, an dem ich ein paar Anhaltspunkte für meine Vergangenheit auftreiben könnte. Trotzdem hält es mich hier nicht lange. Ich mache mich auf den Weg ins sechste Arrondissement, zu meiner früheren Wohnung in der Rue de l’Université. Als ich auf die Klingel drücke, höreich Kindergeschrei. Eine Frau mit einem Baby auf dem Arm und einem anderen Kind am Rockzipfel öffnet mir. Ich erfinde eine herzzerreißende Liebesgeschichte und unerträgliche Sehnsucht nach diesem Ort der Erinnerung, und sie bittet mich herein. Seltsamerweise ist mir die Wohnung, die bis gestern die meine war, ebenso fremd wie jene, in der ich heute Morgen aufgewacht bin. Ohne meine Möbel und meine Sachen hat sie nicht die Bedeutung, die ich hier gesucht habe. Ich bedanke mich bei der Mutter, und auf dem Weg zur Tür erzählt sie mir, dass seit 1988 vor ihr bereits zwei andere Mieter hier gewohnt haben. Ich sollte nicht länger nach Spuren meines früheren Lebens suchen, sondern mich lieber auf die zwölf verlorenen Jahre konzentrieren.
Als ich vor der Schule des Viertels einige Mütter sehe, fällt mir wieder ein, dass ich seit heute Morgen auch Kinder habe: Kinder, die inzwischen festgestellt haben werden, dass ihre Mutter sie vergessen hat. In Panik halte ich ein Taxi an und flehe, es möge den Weg zwischen Boulevard Saint-Germain und Montmartre in Überschallgeschwindigkeit zurücklegen. Obwohl der Fahrer sich durchaus bemüht, sind die Tore des Kindergartens bei meiner Ankunft bereits verschlossen. Na toll. Was sie wohl mit vergessenen Kindern anstellen? Eine Rabenmutter bin ich! Ich habe seit gerade mal zehn Stunden Kinder und schon lasse ich sie im Stich. Die Leiterin kommt an die Pforte und führt mich schließlich mit gerunzelter Stirn zum Nachmittagsimbiss der Kinder, die bis sechs Uhr abends in der Kita bleiben. Die Kleinen mustern mich neugierig, meine Tochter kann ich unter ihnen allerdings nicht entdecken.
»Lola wurde schon von Ihrer Kinderfrau abgeholt«, sagt eine der Erzieherinnen verwundert.
Ich stottere eine Erklärung: »Das muss ein Missverständnis sein. Eigentlich sollte ich sie heute abholen, aber ich war spät dran.«
Ich haste
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