Die Liebe der anderen
überrascht fest, dass es sich um
TV Locale et Compagnie
handelt, genau die Firma, bei der ich gestern angefangen habe. Oh, verdammt! Ich muss aufhören, »gestern« zu denken … Anscheinend bin ich zwölf Jahre lang in dem Unternehmen geblieben, dann muss meine Arbeit doch interessant gewesen sein. Als ich wieder aufschaue, fällt mein Blick auf den Computer. Ob ich ein paar Dokumente gespeichert habe?
Die Zeit eilt dahin. Ich muss los zu meiner Mutter, und bin immer noch unschlüssig, ob ich reden oder schweigen soll. Bevor ich mich von weiteren Entdeckungen ablenken lasse, packe ich schnell meine Handtasche und meine Wohnungsschlüssel. Draußen vor der Tür stolpere ich über die Post: ein Brief an meinen Mädchennamen und eine Postkarte an »Marie de Las Fuentes und ihre Sippe«. Philippe! Ein alter Freund, der Grafiker ist und mir früher dutzendweise Liebeserklärungen in Form von Zeichnungen geschickt hat. Innerlich mache ich einen Freudensprung bei dem Gedanken, dass ich noch Kontakt zu ihm habe.
Ach ja, die guten alten Freunde! In schweren Zeiten gibt es nichts Besseres. Sein Ausdruck und sein Strich haben sich nicht im Geringsten verändert. Er sendet mir die besten Wünsche zu Ostern. Die übrige Post ist an Pablo adressiert. Für Youri ist eine Tierzeitschrift gekommen, und dann gibt es noch eine Karte an uns alle. Die Schrift erkenne ich sofort: Meine Mutter lässt aus Martinique grüßen. Da kommt sie also gerade her. Am Rand entdecke ich eine andere,fremde Unterschrift: »Ich grüße Euch ganz herzlich, Jean.« Ich denke an das Foto im Album, auf dem sie sich an einen Herrn fortgeschrittenen Alters schmiegt. Ist meine Mutter wieder verheiratet?
»Nicht verheiratet, mein Schatz, verbändelt … wie dein Großvater es ausgedrückt hätte. Wenn ich je noch einmal heiraten sollte, woran ich sehr stark zweifle, denn in meinem Alter braucht man kein Alibi mehr, um seinen Spaß zu haben, dann wärst du bestimmt die Erste, die es erfährt … Warum fragst du? Meinst du, ich hätte Jean in den Tropen heimlich geehelicht?«
»Nein, nein … Nur so zum Spaß.«
Glück gehabt. Ebenso hätte sie mir antworten können, dass das längst passiert sei und dass ich an der Feier teilgenommen habe. Ich krame eine Zigarettenschachtel hervor, die ich unterwegs gekauft habe. Sie sieht mich überrascht an, und ich verstecke mich reumütig hinter dem ersten Zug.
»Du rauchst wieder?« Sie wirkt bestürzt.
»Ja, ich meine, nein … Ich wollte nur mal sehen, wie es ist.«
Schon am Vormittag hatte ich mich darüber gewundert, dass nirgends in der Wohnung Zigaretten herumlagen und dass ich eigentlich auch ganz gut ohne ausgekommen bin.
»Ich hätte es schade gefunden, wenn du nach acht Jahren wieder angefangen hättest,« bemerkt meine Mutter mit emporgezogener Augenbraue. Ich rechne nach: Ich muss während meiner ersten Schwangerschaft aufgehört haben. Zerknirscht vergrabe ich die Schachtel wieder in meiner Handtasche.
»Schmeckt mir gar nicht, total eklig. Das war ein guter Test.« Ich lache, doch ich höre selbst, wie falsch meine Stimme klingt.
Meine Mutter ist verstummt, sie gibt die Bestellung auf, dann sieht sie mich wieder schweigend an.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Hast du Streit mit Pablo? Machst du dir Sorgen wegen deiner Entlassung?«
Ich protestiere halbherzig: »Aber nein, alles okay. Ich bin ein bisschen müde, mehr nicht.«
»Soll ich nächste Woche die Kinder nehmen? Sie haben doch jetzt Ferien, wenn ich mich nicht täusche. Ich dachte, die Kleine wäre bei deiner Schwiegermama.«
»Nein, Mama, es ist wirklich alles in Ordnung.«
Vermutlich sollte ich die Gelegenheit ausnutzen, aber wie kann ich denn meine Familie kennenlernen, wenn meine Mutter mir die Kinder gleich wieder wegnimmt? Schließlich habe ich sie erst seit heute Morgen. Meine Entscheidung ist übrigens gefallen: Ich werde ihr nicht von meiner Amnesie erzählen – na, so was, zum ersten Mal nenne ich mein Abenteuer beim Namen –, und um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, lasse ich mir von ihrem Urlaub berichten. Eigentlich hat sie sich kaum verändert. Sie ist ein bisschen fülliger geworden, ein bisschen rundlicher, aber genauso geschwätzig und gnadenlos in ihrem Urteil wie je. Vor dem Abschied lasse ich mir noch einmal ihre Adresse und den Türcode geben, angeblich weil ich ihr ein wunderbares Buch schicken möchte, das ich bei mir gefunden habe. Als sie sich über meine Frage wundert, erkläre ich ihr, dass
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