Die Liebe der anderen
dass ich nicht dieselbe bin, dass ich im Körper einer anderen lebe. Obwohl ich sie kaum kenne, bin ich ihre Mutter, das muss ich mir immer wieder sagen, um mich selbst davon zu überzeugen. Vor lauter Anspannung spüre ich wieder einen Kloß im Hals. Ich kämpfe dagegen an. Ich müsste mich freuen, mein Leben ist beneidenswert: Diese Kinder sind außergewöhnlich, sie sind Engel, von innerer Schönheit, sensibel, entzückend, bezaubernd. Ich habe herrliche Stunden mit ihnen verbracht. Auch ich habe sie beobachtet, ihre Spontaneität, ihren Trotz, ihre kleinen Wutanfälle, ihre Beziehung untereinander.
»Wollen wir essen?« Ich folge Pablo in die Küche. Er trägt einen leichten, hellen Anzug, der wunderbar zu seinem dunklen Teint passt. Ich schiebe meinen Arm unter den seinen. Ein bisschen mulmig ist mir schon. Immerhin ist es das erste Abendessen mit meinem Mann nach zwölf Jahren, die wir offenbar gemeinsam verbracht haben.
Er hat eine Kerze angezündet und lächelt, als er an seinem Teller schnuppert. »Was ist das?«
»Was Improvisiertes, ein Resteessen. Ich habe getan, was ich konnte.«
Er schmunzelt. »Du hattest mehr Lust, dich mit den Kindern zu amüsieren, was?«
Anscheinend kommt es nicht häufig vor, dass ich das Baden, das Abendessen und die Uhrzeit vergesse, sonst wäre es ihm kaum aufgefallen. Was für eine Frau bin ich bloß geworden? Ruhig Blut, nicht gleich wütend auf mich werden. Immerhin bin ich zwölf Jahre älter und eine andere, auch wenn ich mich der zwölf Jahre Jüngeren definitiv verbundener fühle. Jedenfalls ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um unsolidarisch mit mir zu werden. Ich muss ganz sein, damit ich mich vollständig wiederfinden kann. Betrachten wir also die positiven Seiten: Ein Abend allein mit diesem umwerfend gutaussehenden Mann ist doch genau das, was ich mir gestern so gewünscht habe … Ich hatte es mir ein klein wenig anders vorgestellt, zugegebenermaßen.
Pablo sitzt mir gegenüber und wirkt sehr zufrieden. »Gute Idee, auf der Terrasse zu essen, das ist mal was anderes.«
An so einem lauen Abend fand ich das die selbstverständlichste Sache der Welt. Mein nächster Gedanke ist: genauso ein lauer Abend wie an jenem berühmten Donnerstag, dem 12. Mai, an dem wir uns kennenlernten. Aber heute ist Freitag, und wir schreiben das Jahr 2000.
»Ich mag dieses Kleid, du trägst es nicht oft. Das war mal ein Geschenk von mir, erinnerst du dich?«
Autsch, das fängt ja nicht gerade gut an. Bitte keine Erinnerungen! Um die Peinlichkeit zu überspielen, setze ich auf Übertreibung.
»Aber Pablo, wie könnte ich jenen unauslöschlichen Tag vergessen, an dem du mir dieses wunderbare Geschenk machtest?« Ja, wie konnte ich den bloß vergessen, diese Frage stelle ich mir in der Tat. Er scheint sich über meine Antwort zu wundern, doch als er mich lächeln sieht, lacht er mit und nimmt mit einem vielsagenden tiefen Blick meine Hand.
»Du bist so schön. Noch viel schöner als an dem Tag, an dem ich dich zum ersten Mal sah.«
Ich mache ein skeptisches Gesicht. Das ist im Augenblick zu nah, als dass ich mich einfach so verleugnen könnte.
»Ich war jünger.«
»Nein, überhaupt nicht, heute bist du jünger, viel einfallsreicher, fröhlicher, phantasievoller. Je länger ich dich ansehe, umso mehr staune ich.« Ich fürchte, das wird noch zunehmen. Ich könnte ihm sogar versprechen, dass er sich noch mehr wundern wird. Eine Sache quält mich: Ich habe nicht die geringste Idee, was Pablo beruflich machen könnte. Vielleicht sind Männer wie Kinder. Ich beschließe spontan, ihm dasselbe Spiel vorzuschlagen wie Youri.
»Pablo, nehmen wir an, wir begegnen uns zum ersten Mal. Das hier ist unser erstes Abendessen. Gestern haben wir nur miteinander geschlafen. Ich weiß nichts über dich.«
Er lacht. »Was du da von mir verlangst, ist zu schwierig. Das kriegen wir niemals hin.«
»Bitte, lass es uns versuchen, ja? Tu mir den Gefallen.«
»Na gut, meinetwegen. Vorausgesetzt, ich darf dich ganz plump anbaggern.«
»Alles, was du willst, Hauptsache, du beantwortest meine Fragen.«
»Okay, aber ich fange an: Warum haben Sie meine Einladung zum Abendessen so schnell angenommen?«
»Wegen Ihres Lächelns … Nein, wegen Ihrer Augen. Keine Ahnung, alles zusammen … Wenn ich Sie wiedersehen wollte, wo würde ich Ihnen am ehesten zufällig über den Weg laufen?«
»Auf meinem Kopfkissen. Da bin ich so ziemlich jede Nacht. Das ist ein vorzüglicher Ort, um mich zufällig zu
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