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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Todestag. Sie hat es sich geschworen, dass einmal ihr ganzes Gesicht voll davon sein wird. Nach ihrem Tod wird man sie verbrennen und eine Menge Eisen übrig behalten.

D as Fenster der Garderobe geht auf den Eingang des Theaters. Eine schmale Gasse ohne Autos.
    Die Jogar hört die Straßengeräusche. Die Unterhaltungen, das Gemurmel. Sie spürt die Bewegungen, die Präsenz des Publikums, das vor den Türen wartet. Ihre Truppe hat nicht für den Streik gestimmt, doch die Meinungen waren geteilt. Sie wirft einen Blick durch den Spalt des Fensterladens. Festivalbesucher sitzen auf dem Bürgersteig, sie essen Sandwiches und blättern in ihren Programmheften.
    Sie geht zum Tisch zurück. Avignon ist ihre Stadt. Hier zu spielen ist schwieriger als anderswo.
    Sie braucht ein paar Minuten für sich. Sie lässt einen Tropfen Öl in ihre Hand gleiten, einen Balsam, den sie sich aus Indien schicken lässt, und reibt ihren Hals und ihre Arme ein. Ihre Hände.
    Die Glühbirnen des Spiegels beleuchten ihr Gesicht. Sie trinkt einen Schluck Wasser.
    Ein Blick auf die Wanduhr.
    Jeder Auftritt ist eine einzige Qual. Sie kennt alles, den Blackout, den Versprecher, die extreme Erschöpfung. Sie kennt die Augenblicke danach, in der Garderobe.
    Sie singt ein paar Vokalisen, die Hand auf der Brust.
    Pablo kommt in die Garderobe. Er ist seit drei Jahren ihr Assistent.
    »Wir sind ausverkauft«, sagt er und legt einen Armvoll Rosen auf den Tisch.
    Er massiert ihren Nacken.
    Phil Nans steckt den Kopf herein.
    »Alles in Ordnung, cara mia ?«
    Sie lächelt. Er ist ihr Bühnenpartner, ihr Mann von der Straße, ebenso gutaussehend wie Clint Eastwood.
    Er kommt näher, küsst ihr die Hand.
    »Gehen wir?«
    Auf der Bühne stimmen die Bühnenarbeiter die letzten Feinheiten der Beleuchtung ab. Die Requisiten sind an ihrem Platz, ein Tisch, vier Stühle, ein Transistorradio. Eine Karaffe Eistee und zwei große Gläser.
    Der Vorhang ist geschlossen. Sie hört das undeutliche Stimmengewirr auf der anderen Seite. Die Nervosität steigt.
    Sie tauschen einen Blick.
    Dann hört sie die drei Schläge. Das Blut weicht aus ihrem Kopf. Die Sohle ihres Schuhs berührt leicht den Boden. Diejenigen, die im ersten Rang sitzen, nehmen diese flüchtige Berührung wahr. Sie ist Teil der Vorstellung. Wie die Worte, der Ton, das Licht. Wie sogar das Atmen der Jogar.
    Mit der Hand zieht sie den Stuhl. Sie wird zu Meryl Streep, vier ganze Tage, auf der Straße von Madison, in der Nähe der Roseman Bridge, in der schwülen Hitze von Iowa.
    »›Es ist nicht viel los in der Stadt abends, in Iowa …‹«
    Ihre Stimme ist träge, heiser, der Körper schwer, die Lippen feucht.
    Vor ihr Hunderte von Gesichtern im Dunkel.
    »›Ich bin nur eine Hausfrau mitten im Nirgendwo, meine Geschichte ist vollkommen uninteressant.‹«
    Alles spielt sich in der Schwüle des Verlangens ab. Diese Straße ist ihre Suche.
    »›Wenn Sie zu Abend essen wollen, kommen Sie zu mir um die Zeit, da die Nachtfalter fortfliegen.‹«
    Dieser Satz lässt sie erschauern.
    Sie spielt nicht mehr. Sie ist längst darüber hinaus. Es dauert etwas länger als eine Stunde.
    Am Schluss nimmt sie Phil Nans’ Hand und bittet darum, dass im Saal das Licht angemacht wird. Sie will die Gesichter sehen. Sie sagt: »Ich will Sie sehen!«
    Das Publikum erhebt sich und applaudiert. Leidenschaftliche Bravorufe, die auch von Tränen begleitet sind.
    Sie brennt sich in ihr Gedächtnis ein. Sie blickt sie an, sie schont sie nicht. Dafür lieben die Menschen sie. Später schreiben die Zeitungen andere Dinge, dass sie schön sei, dass sie das gewisse Etwas habe. Sie schreiben auch, dass sie arrogant sei.
    Ein paar Augenblicke bleibt sie noch so stehen, ganz nah am Bühnenrand, schweißgebadet, mit wirrem Haar. Sie mustert die Gesichter, sie sucht jemanden, ohne zu wissen, wen. Einen Nachbarn, einen Freund. Ihren Vater vielleicht?
    Es ist niemand da.
    Sie wendet sich ab, geht, bevor sie gehen. Sie verlässt die Bühne, wie sie sie betreten hat, bei offenem Vorhang. Unfähig, noch irgendetwas zu sagen.
    Ein paar Leute warten hinter den Kulissen auf sie. Sie schüttelt Hände, gibt Autogramme.
    Draußen ist Abend. Auf den Straßen herrscht Gedränge, und die Zikaden sind endlich verstummt.

F ür das Chien-Fou ist es der vierte Abend, an dem sie nicht spielen. Über Nuit rouge prangt ein schwarzes Kreuz.
    Die Festivalbesucher, die gewartet haben, gehen wütend und fragen sich, wozu man kreativ ist, wenn man seine Kunst

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