Die Liebe ist eine Insel
nicht unter die Leute bringt. Die Theater, die geöffnet bleiben, spielen vor vollem Haus, sie holen sich das Publikum derer, die nicht spielen.
Marie will keine anderen Stücke sehen, also treibt sie sich herum. Die Stadt ist hell erleuchtet, überall herrscht Feststimmung, doch unter der Musik brodelt es.
Touristen sitzen auf den Terrassen, und freie Theaterleute demonstrieren.
Sie kauft sich Zuckerwatte und setzt sich auf die Stufen an der Place de l’Horloge. Sie schaut einem jungen Mann zu, der mit Fackeln jongliert.
Julie hatte sich eine tote Stadt gewünscht, doch die Solidarität ist eher halbherzig.
Sie isst mit den Jungs an der Place des Carmes zu Abend. Sie haben es nicht eilig, schlagen vor, tanzen zu gehen.
Damien küsst Julie, flüstert ihr ins Ohr. Sie riecht nach Talkum, nach Vanille.
»Schön bist du auch noch …«
»Und was noch?«
Er flüstert weiter. Sie küsst ihn leidenschaftlich. Ihr Körper glüht. Ihre Haut ist feucht.
»Gehen wir schwimmen?«
Er vergräbt sein Gesicht zwischen ihren Brüsten. »Ich geh mit dir, wohin du willst!«
Sie verlassen die anderen.
Eng umschlungen laufen sie durch die Nacht. Begegnen Freunden. Bemerken Marie auf den Stufen. Weitere Freunde.
Plötzlich bleibt Julie stehen. Auf einem der Plakate hat sie ein Gesicht erkannt.
Sie löst sich von Damien, geht zurück. Diese Augen, dieses Lächeln.
Sie verzieht das Gesicht.
Das ist die Jogar.
Die Tränen ihrer Mutter, die Streitereien, die Schreie. Die Koffer, die eines Morgens auf dem Deck des Kahns standen, das wartende Taxi. Sie war fünfzehn. Sie verfluchte ihren Vater, konnte nicht verstehen, warum er sie nicht zurückhielt.
Sie streckt die Hand aus, kratzt mit den Fingernägeln am Gips, löst eine Ecke des Plakats. Dann zieht sie mit einer schnellen Bewegung. Das Papier zerreißt, teilt das Gesicht in zwei Hälften. Sie entfernt den Rest.
Sie nimmt sich das nächste Plakat vor. Passanten schauen ihr zu.
Damien legt seine Hand auf ihren Arm.
»Hör auf damit.«
Sie hört nicht auf ihn.
Ihre Mutter war unglücklich, und ihr Vater auch.
Damien nimmt ihre Hand und zieht sie von der Mauer weg.
Hinter ihr wehen die Fetzen des Gesichts über den Bürgersteig.
O don löscht die Lichter im Theater, zieht die Tür zu und schließt hinter sich ab. Es ist spät, der Platz ist ruhig. Das Restaurant de l’Épicerie geschlossen.
Er geht die Rue de la Banasterie hinauf. Das Hotel La Mirande liegt ganz in der Nähe, eines der luxuriösesten der Stadt, versteckt in einem ruhigen Viertel hinter dem Papstpalast.
Odon geht an den Mauern entlang, die den Garten umgeben. Er kommt an den Türen vorbei. Ein Range Rover parkt in der Nähe des Eingangs. Ein amerikanisches Touristenpaar geht etwas angesäuselt hinein. Er bleibt stehen und zündet sich eine Zigarette an.
Im Patio brennt Licht.
Die Jogar ist da, irgendwo in einem Zimmer, vermutlich einem von denen, die auf die Gärten gehen. Er überlegt, ihr eine Nachricht zu hinterlassen, sich mit ihr zu verabreden, ein gemeinsames Mittagessen. Vielleicht ist sie nicht allein.
Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Und wenn er alt geworden ist?
Langsam setzt er seinen Weg durch die Passage Peyrollerie und die Rue de Mons fort.
Er erinnert sich an ihre Begegnung, es war in einem Theater nur ein paar Straßen entfernt, sie spielte Tschechow, an vier Abenden, mit einer Truppe aus Lyon. Sie bückte sich, um ihren Schuh zuzubinden, er begegnete ihrem Blick. Es war ein ehemaliges Bistro, das umgebaut worden war, er saß in der dritten Reihe. Am nächsten Tag war er wieder da. Nach der Aufführung wartete er auf dem Bürgersteig auf sie. Sie war müde, sie wollte ins Hotel zurück und schlafen. Sie wechselten ein paar Worte, rauchten eine Zigarette.
Er erzählte ihr von der Rhone, vom Fort Saint-André, von den Sehenswürdigkeiten. Sie lachte, sie kenne das alles. Ich bin hier geboren, eine Kindheit innerhalb der Stadtmauern.
Sie sprachen über das Viertel.
Ihr Hotel lag in der Rue des Lices. Er begleitete sie nach Hause. Es war windig, ein Mistral, der über alles hinwegfegte.
Er schlug ihr vor, am nächsten Tag, bevor sie abfahren würde, ins Chien-Fou zu kommen, sie könnten einen Kaffee trinken. Sie sagte, vielleicht würde sie kommen. Dabei wusste sie, dass sie es nicht tun würde. Sie schüttelten sich vor dem Hotel die Hand.
Sie war noch keine dreißig. Er war zehn Jahre älter, mit Nathalie verheiratet, und Julie würde bald ihren fünfzehnten
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