Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
Kratzen.
– Ich kann nicht warten …
– Lass es!
– Wenn ich es jetzt nicht mache, dann kann ich die Pfanne gleich wegwerfen!
– Brauchst du eine schriftliche Einladung?
Mein Vater war aufgestanden. Dann schaute er mich an und setzte sich wieder. Normalität bewahren. Alles in Ordnung. Niemand streitet.
Es war erbärmlich.
Sie hatten beide tiefe Augenringe, die Hautstelle darunter war dunkelgrau und so schlaff und ausgeleiert, als hätten die ganze Nacht Bleigewichte daran gehangen.
Solange ich in der Küche war, schwiegen sie, verschonten mich. Ich hasste sie dafür.
Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass keiner von ihnen bemerkte, dass ich an diesem Tag gar kein Frühstück bekam.
Das geschah ihnen recht, dachte ich.
Irgendwann würde es mir so schlecht gehen, dass sie ihr Verhalten schlagartig ändern müssten.
Wenn meine Eltern keine Zeit für ein Mittagessen hatten, kam Inge zu mir, die sonderbare Nachbarin. Sie saß in der Küche und wartete, bis sie jemand ansprach. Wir sperrten die Wohnungstür so gut wie nie ab; in unserem Bezirk gab es wenig Kriminalität, trotz des finsteren Volksgartens gleich um die Ecke.
– Hallo, sagte ich in die Küche.
– Hallo, sagte Inge, schau –
Sie winkte mich zu sich heran und zeigte mir ihre Fußsohle. Sie war schwarz und besaß fast so etwas wie ein Muster, eine Struktur aus eingetretenem Dreck.
– Sohlen …, sagte sie, nickte mir aufmunternd zu und lachte auf ihre breite, hin und her schwappende Art.
Inge kochte gut und erzählte immer wieder dieselbe Geschichte von dem Lamm, das sie als Kind versucht hatte aufzuziehen, weil es von seiner Mutter verstoßen worden war. Ich hörte die Geschichte gerne. Inge hatte schon vor langer Zeit den Verstand verloren. Deshalb konnte sie so gut kochen und erzählen.
Und noch einen Vorteil hatte es, wenn Inge in der Wohnung war: Sie ließ mich, ohne nachzufragen, überall hingehen.
Michael freute sich – trotz des kleinen Kampfes vor der Kirche – immer noch, wenn er mich sah. Er wusste, dass ich viel klüger war als er und deshalb auch viel einfallsreicher. Besonders liebte er es, wenn seine Mutter uns beide allein ließ, dann wich er gar nicht von meiner Seite, stellte sich taub für jeden Satz in normaler Tonlage, sprang aber auf alles an, was ich mit leicht veränderter Stimme sagte.
Ich redete mir ein, dass Michael mich für meine Klugheit und meine fantasievollen Spielideen liebte, und ich hasste ihn gleichzeitig für diese Schwäche. Sobald er mich spüren ließ, dass ich ihm überlegen war, konnte ich die Beherrschung verlieren.
Trotzdem musste ich zugeben, dass mir die Spiele mit ihm am besten gefielen – das Verschanzen hinter einem Berg von Matratzen, das Ausschauhalten am Balkon, in ein paar annähernd in Armeefarben getupfte Decken gewickelt, oder das Verwundeten-Spiel, in dem wirzwei Angeschossene oder Verstümmelte waren, die sich durch eine Wüste oder einen Dschungel oder eine menschenleere Vorstadt schleppten – die Spiele erfüllten das wichtigste Kriterium, das ich bei Spielen kannte: Mir wurde heiß.
An diesem Tag spielten wir an seinem Computer. Ich schlug etwas anderes vor, aber Michaels Mutter war noch zuhause, und ich verstand sein Zögern. Er wollte den Genuss für später aufsparen, ich selbst hätte es genauso gemacht. Wir saßen nebeneinander vor dem Bildschirm, Michael hatte einen Stuhl für mich aus der Küche geholt, einen hellen aus Holz, der nicht zu dem schwarzen Bürosessel passte, auf dem Michael halb kniete und halb saß. Seine Finger waren schmutzig, gelb und dick. Das halbe Kreuz der Pfeiltasten seiner Tastatur war abgewetzt und verschmiert. Ich musste sie, Gott sei Dank, nicht anfassen. Michael konnte den Augenblick kaum erwarten, da seine Mutter endlich die Wohnungstür hinter sich zuziehen und uns allein lassen würde. Er wurde nervös, war nicht richtig bei der Sache, ihm unterliefen lächerliche Fehler.
Ich ermahnte ihn, er solle sich konzentrieren.
Er stand auf und ging zur Tür. Er lauschte. Als er die Schritte seiner Mutter hörte, die aus dem Badezimmer kam, senkten sich seine Schultern.
– Komm wieder her, sagte ich.
Ich ertrug es nicht, wenn die Anwesenheit seiner Mutter wichtiger war als meine. Ich besuchte ihn schließlich nur einmal in der Woche. Ob seine Mutter da war oder nicht, konnte ihm doch eigentlich egal sein. Und wenn wir schon nicht die richtigen Spiele spielen konnten, solange wir nicht allein waren, sollte er doch
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