Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
Vom Netzwerk:
Milchglas
    Il ragazzo non osa guardarsi nel buio,
    ma sa bene che deve affogarsi nel sole
    e abituarsi agli sguardi del cielo, per crescere un uomo.
    Cesare Pavese
    Es gab sie wie Sand am Meer, sie waren überall und allgegenwärtig, die Grauzonen von Traurigkeit, Wahnsinn und Einsamkeit in Gegenständen, Gebäuden und Situationen: offen stehende Garagen mit einem unveränderlichen Ölfleck auf dem Boden, überquellende Mülltonnen, dreibeinige Hunde oder – sehr schlimm – Haltestellen, als wäre man angekettet unter freiem Himmel; dann einzelne Dinge, verbogenes Besteck, braun beränderte Fäustlinge, Körner aus Winterstreugut, die in den flüssigen Schuhabdrücken auf dem Küchenfußboden schwimmen, ausgebrannte Telefonzellen, Büsche, die nach Urin riechen und trotzdem von Hunderten Spatzen bewohnt sind, die verblassenden Farben der eigenen Sommerkleidung im Untergangslicht eines Treppenhauses, in dessen schummrigen Halbstöcken kleine taufbeckenartige Vorrichtungen stehen, ohne einen Hinweis auf Sinn und Zweck; die ganze entsetzliche Melancholie und Verlorenheit eines Bahnsteigs, der Pendelblick nach links: Schienen, endlos, dann nach rechts: dasselbe, und der vergebliche Versuch, sich festzukrallen in den Rockfalten der Mutter angesichts dieser ausweglosen Unendlichkeit, die einem am nächstenTag auf harmlosere Weise wieder begegnet, in der Schule, als Zahlenstrahl.
    Und die abendlichen Planeten Mars und Venus, mit ihren fühlerartigen Ausläufern, wenn man sie anzwinkert: kleine Bernsteininsekten über den Dächern der Stadt.
    Ich schlief fast keine Nacht mehr durch, seit Bernd, mein Bruder, ausgezogen war. Früher hatte mich immer sein Schnarchen beruhigt, sein Gemurmel im Schlaf, seine Bewegungen, die träge und einförmig waren wie die eines aufgehenden Backteigs.
    Jede Nacht hatte ich Albträume: lange, unfreundliche Korridore, in denen man mit verschiedenen Graden der Unbeweglichkeit kämpfen musste; verschlossene Türen mit fremdsprachigen Aufschriften; meine Mutter, die mich nicht mehr wiedererkennt und meinen Bruder bittet, mir zu zeigen, wo der Ausgang ist; Verfolgungsjagden durch unseren Keller, in dem Atommüll lagert; ein sterbendes Tier, das sich in einen der schwarzen Regenschirme geflüchtet hat und daraus nicht mehr zu vertreiben ist; rötliches Eis, das beim Schlittschuhlaufen bricht; Clownsschminke, die man nicht mehr ab bekommt. Und in beinahe jedem Traum begegnete ich einer blauen Flamme wieder, die plötzlich irgendwo hochzüngelte, aus meiner Armbanduhr, aus einem Stück Brot, aus einem Brückengeländer, das sich in diesem Moment auflöste und mich in den Fluss stürzen ließ, aus Geldbörsen, Eistüten, Legosteinen, fremden Augen. Ich hasste die blaue Flamme, ihre Farbe war das Entsetzlichste an ihr, dieser Ton von Blau, den ich tagsüber nirgends erblicken konnte. Er ließ sich auch nicht mit Buntstiften auf Papier malen, die verfügbaren Schattierungenaus der Pelikan-Zeichenbox reichten dafür nicht aus. Ich versuchte, der Flamme einen Namen zu geben, damit sie mich endlich nicht mehr heimsuchte, aber es half nichts.
    Zu den Albträumen kamen noch meine Schwierigkeiten einzuschlafen. Meine Glieder wollten sich einfach nicht beruhigen. Die Finger blieben hellwach bis spät in die Nacht und bewegten sich, zwei nervöse Spinnen, über die Bettdecke. Außerdem hörte ich die ganze Nacht lang meine Eltern durch die Wohnung gehen, Möbel verrücken, flüstern, sprechen. Ich war schon oft zu ihnen hinausgegangen, wenn sie mich mit ihren Geräuschen qualvoll lange wach gehalten hatten, aber sie saßen immer nur in der Küche oder im Wohnzimmer, betreten, verwirrt, überrascht, mich so spät noch zu sehen – und rieten mir, mich wieder ins Bett zu legen.
    Ihr Verhalten war mir unerklärlich. Was hatten sie immer zu bereden? In den Gesprächen beim gemeinsamen Abendessen ließen sie sich nichts anmerken. Merkwürdig war, dass sie immer erst gegen Mitternacht miteinander zu flüstern und zu sprechen begannen, wenn ich noch mit der Angst kämpfte, diesmal die ganze Nacht wach zu bleiben.
    Wenn wirklich gar nichts mehr half, holte ich die blaue Kiste unter meinem Bett hervor.

    Kinder im Park sind wie Verstoßene, sie laufen überallhin, als wären sie auf der Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht. Wer zu lange an einem Ort blieb, wurde von Bettlern belästigt, die mit einem Speichelfadenam Kinn kämpften oder eine Hand in ihrer Hose bewegten, als wollten sie ein schlagendes Herz

Weitere Kostenlose Bücher