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Die Lieben meiner Mutter

Die Lieben meiner Mutter

Titel: Die Lieben meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schneider
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Fliegen, wie ich es bei den Vögeln beobachtete, die hoch über mir in dem engen, von mächtigen Felswänden eingeschlossenen Himmel kreisten. Es war ein Fliegen, das aus dem Laufen und Rennen entstand, ein Springen und Hinweggleiten über die steilen Hänge, wobei der Fuß nach dem Abstoßen wie versehentlich den Kamm des nächsten und übernächsten Hügels streifte, bis – man musste sich bloß trauen! – die Berührung mit der Fußspitze überflüssig war und nur noch der Vergewisserung diente, dass ich mich nicht zu hoch über die Erde erhoben hatte. Plötzlich war dieses mächtige Sausen in meinen Ohren, und der ganze flügel- und federlose Körper rauschte hinaus ins Freie, während die Hügel jählings unter mir wegstürzten wie eine Erdlawine, die ich mit den Zehenspitzen losgetreten hatte. Eine kurze Ewigkeit lang glitt ich dahin in der beängstigenden und herrlichen Leere, leicht, aber nicht schwerelos, denn der Körper kannte immer noch seine Bestimmung, erdwärts zu fallen, und dies würde unweigerlich geschehen, sobald ich an den Absturz dachte. Es kam darauf an, den Augenblick vor dem Fall so lang wie möglich auszudehnen und rechtzeitig vor dem Aufprall aufzuwachen.
    DasFliegen war kein Wunsch, den ich mir aus Märchen- oder Sagenbüchern angelesen hatte, eher eine Antwort auf die Hügellandschaft, in die es mich verschlagen hatte. Es war die Übersetzung einer Botschaft, die mir die Landschaft mitteilte. Das Dorf unten im Tal kam mir vor wie der Grund eines Sees, dessen Ufer steil in unerreichbare Höhe stiegen. Nur im Dorf, auf dem Grund des Sees, fiel das Atmen leicht; sobald man das Ufer erreichte und sich vom Dorf entfernte, fing das Keuchen an. Man konnte auf den Wegen hinansteigen bis dorthin, wo sich die Wälder lichteten und einem krüppeligen Buschwerk Platz machten, und höher hinauf bis zum Fuß der Schlucht, in der das Geröll lag – das Geröll, das immer in einer leisen Bewegung zu sein schien, auch wenn man kein Rollen hörte, nicht einmal ein Rieseln. An den Felswänden, die sich links und rechts des Gerölls in den Himmel erhoben, endeten alle Wege. Einmal war ich allein bis zum Fuß der Schlucht gelangt, die den Kleinen vom Großen Waxenstein trennt, war auf den losen Steinbrocken, die sich unter meinen Füßen lösten und sofort kleine Steinlawinen anstießen, weit und immer weiter aufwärtsgestiegen. Aber plötzlich geriet, wie von einem unsichtbaren Vorgänger angestoßen, auch das Geröll vor mir in Bewegung, stürzte mir entgegen und hätte mich mitgerissen, wenn ich mich nicht mit zwei, drei Sprüngen an den felsigen Rand des Geröllbetts gerettet hätte. Beim nächsten Mal war ich vorsichtiger. Ich blieb am Fuße der Schlucht stehen, prägte mir die Lage jedes großen und kleinen Brockens in meinem Gesichtskreis einund schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatten die kleinen, aber auch die großen Steine, ohne ein Geräusch zu machen, ihren Ort gewechselt.
    Ich ging nie wieder dort hinauf. Die Welt jenseits der Felswände, die abends in der Sonne aufglühten wie ein vergänglicher Feuerzauber, blieb unerreichbar.
    Mein Terrain waren die hügeligen, steil abfallenden Hänge unter den Felswänden. Aber das Wort Hänge beschreibt den Sog nicht, den sie auf mich ausübten. Denn diese spitzen Hügel waren keine Erhebungen, auf denen man stehen bleibt, um die Hand an die Stirn zu halten und die gegenüberliegenden Berggipfel zu bestaunen. Diese Hügel schienen immer in Bewegung zu sein wie die Steine in der Geröllschlucht – Wellen eines talwärts stürzenden Flusses, die mitten in der Bewegung des Abstürzens erstarrt waren. Sie sagten mir: Hab keine Angst, reiß dich los, breite die Arme aus und spring!
    Willi war sieben Jahre älter als ich und wohnte schräg gegenüber im Haus des Architekten. Ich begegnete ihm in einem Krieg zwischen Kinderbanden im Zigeunerwald, wo wir uns mit Speeren, Bögen und Pfeilen, die wir aus Weiden- und Haselnusszweigen geschnitzt hatten, bekämpften. Unter kirchturmhohen Tannen schlichen wir uns auf den knöcheltief mit Nadeln übersäten Pfaden an, versteckten uns hinter dicken Stämmen und Felsen, unter denen Füchse und Marder hausten. Willi traf mich mit seinem Speer in den Rücken, so wuchtig, dass ich niedersank. Lichtumglänzt sahich ihn über mir stehen, mit einem Fuß auf meiner Brust. Er drehte mich auf den Bauch, streifte mein Hemd hoch, untersuchte das Loch in meinem Rücken, spuckte darauf und sagte einen Zauberspruch,

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