Die Lieben meiner Mutter
las, war dreißig Jahre älter geworden als seine Mutter. Worüber hätte er mit der jungen Frau rechten sollen? Es konnte nur darum gehen, sie und ihr kurzes Leben zu verstehen. Und dabei vielleicht etwas über jenen Teil meines eigenen Lebens zu erfahren, den ich nicht hatte bestimmen können.
Die Geschichte zwischen Andreas und der Mutter beginnt mitten im Krieg in Königsberg. Die beiden Familien – die Mutter mit ihrem Mann Heinrich und den drei Kindern, das vierte war noch nicht geboren – und der damals noch kinderlose Andreas mit seiner Gattin wohnen in demselben Haus. Die beiden Männer sind an der städtischen Oper tätig, Andreas als Regisseur, Heinrich als Dirigent. Zu dieser Zeit müssen Millionen von deutschen Männern bereits an den Fronten des Hitlerkrieges ihr Leben einsetzen. Theater- und besondersOpernkünstler gelten noch als unabkömmlich. Der Reichspropagandaminister und selbst ernannte »Reichsdramaturg« Joseph Goebbels lässt den Betrieb an den Opern bis zum Herbst 1943 weiterlaufen. Als viele deutsche Städte bereits brennen, als die Theater- und Opernhäuser teilweise oder ganz in Trümmern liegen, gibt es in Deutschland immer noch Premieren und Premierenfeiern. Noch im November 1943 kann Andreas an der Deutschen Oper in Berlin unter seinem Dienstherrn Goebbels »Così fan tutte« aufführen – zwei Wochen, bevor das Haus zerbombt wurde. Erst im November 1944 werden Heinrich und Andreas eingezogen und ihren Einheiten zugewiesen.
Für die Mutter ist die Begegnung mit Andreas ein Naturereignis, für das es im Deutschen kein geeignetes Wort gibt. »Coup de foudre« nennen es die Franzosen, »colpo di fulmine« sagen die Italiener. Es ist ein Blitzschlag der Liebe, der sie im Innersten erschüttert und jeden Widerstand zerschmilzt. Ist es meine Schuld , wird sie Andreas später fragen, daß ich dich eines Tages sah, liebte, mich an dich band, so daß ich mich nicht mehr lösen kann?
Schon früh in ihrer Ehe, noch bevor sie Andreas kennenlernte, hat sie gegenüber einem anderen Liebhaber ein Bekenntnis abgelegt, an dem sie über alle Schmerzgrenzen hinweg festhalten wird.
Mir ist es so seltsam ergangen: Ich hab’ versucht, Entschuldigungen herbeizuführen – nach der einen oder anderen Richtung – erst hab’ ich dich haben wollen, und dann hab’ ich dich restlosvertreiben wollen. Beides glückte nicht, weil ich viel zu wenig ehrfürchtig war vor hohen Gesetzen, weil ich noch nicht wußte, daß man weder verlangen – noch sich versagen – darf, wenn das Schicksal einem aufträgt: zu lieben. Weil ich dies in großen Schmerzen erfahren habe, ist es ganz still in mir geworden, und mein Leben wird nicht mehr gestört von diesen Dingen, die es fast zerbrochen hätten, weil ich sie falsch verstanden habe.
In den Briefen an die Verwandtschaft – meist an ihre Schwiegermutter, denn an ihren Vater und an ihre Schwester schreibt sie kaum – finde ich die Mutter wieder, die wir kannten. Eine Frau, die ganz für ihre Kinder lebt. Meist sind es Weihnachts- und Geburtstagsbriefe, die sich in endlosen Einzelheiten über die Schwierigkeiten der Versorgung, über ihren Ärger mit den Kindermädchen, mit Danksagungen und guten Wünschen erschöpfen. Briefe, wie sie in jenen Jahren wohl tausendfach geschrieben wurden. Wenn sie von ihren Leidenschaften handeln, entsteht ein anderer, ganz eigener Ton, eine poetische und präzise Sprache, fragend, träumend, hingegeben, aber auch erbarmungslos gegen sich und andere. Es ist, als würde sie in diesen Briefen eine Fähigkeit entfalten, die sie nach und nach entdeckt. Erst in der rückhaltlosen Offenheit für den Tumult, der in ihr tobt, findet sie zu sich selber.
Hans, den Adressaten des oben zitierten Briefes, hat die Mutter später in die Wüste geschickt und danach kaum mehr ein gutes Wort für ihn gefunden. Aber ihrer Überzeugung von den hohen Gesetzen und der Schicksalhaftigkeitder Liebe , der man sich nicht ungestraft entziehen dürfe, bleibt sie treu. Erst in der Begegnung mit Andreas entwickelt sich ihre Bereitschaft, dieses Schicksal anzunehmen, bis zur letzten Konsequenz, bis zur Selbstzerstörung.
Das Paar sieht sich in großen Abständen. Es bleibt unklar, in welchem Hotel, in welcher Wohnung sie ihre seltenen Liebesstunden verbringen. Ihre Treffen sind weniger beschränkt durch große Entfernungen, zerbombte Städte und zerstörte Bahngleise als durch Andreas’ engen Terminplan. Nie kommt es vor, dass die Mutter eine Verabredung absagt,
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