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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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versperrte den Weg. Gähnend fuhr Abby sich durchs volle Haar und lächelte wissend, als sie Madeleine bemerkte.
    «Na», sagte sie, «wohin bist
du
denn gestern Abend verschwunden?»
    «Meine Eltern sind unten», sagte Madeleine. «Ich muss zum Frühstück.»
    «Na los. Erzähl schon.»
    «Es gibt nichts zu erzählen. Ich bin spät dran.»
    «Und weshalb trägst du dann immer noch dieselben Klamotten?»
    Statt zu antworten, blickte Madeleine an sich hinunter. Zehn Stunden zuvor, als sie sich das schwarze Betsey-Johnson-Kleid von Olivia geliehen hatte, war sie begeistert gewesen, wie gut es ihr stand. Aber jetzt fühlte es sich heiß und klebrig an, der dicke Ledergürtel erinnerte an eine Sadomaso-Fessel, und oberhalb des Saums war ein Fleck, den sie lieber nicht identifizieren wollte.
    Inzwischen hatte Abby bei Olivia geklopft und trat ein. «Von wegen Maddy und gebrochenes Herz», sagte sie. «Wach auf! Das musst du gesehen haben.»
    Der Weg zum Bad war frei. Madeleines Bedürfnis nach einer Dusche war extrem, beinahe medizinisch. Zumindestmusste sie sich die Zähne putzen. Aber nun war Olivias Stimme zu hören. Gleich würden sie Madeleine zu zweit ausfragen. Von ihren Eltern war zu erwarten, dass sie jede Sekunde wieder anfingen zu klingeln. Zentimeterweise, so leise wie möglich, bewegte sie sich rückwärts, steckte die Füße in ein Paar Slipper, die noch an der Tür standen, trat, ihr Gleichgewicht suchend, die Hacken herunter und floh ins Treppenhaus.
    Der Aufzug wartete am Ende des geblümten Läufers. Wartete, so dämmerte es Madeleine, weil sie das Ding nicht geschlossen hatte, als sie ein paar Stunden zuvor herausgetaumelt war. Jetzt machte sie das Schiebegitter sorgfältig zu, drückte den Knopf zum Erdgeschoss, und mit einem Ruck begann der antike Kasten seine Abfahrt durch die Finsternis des Gebäudes.
    Das Haus, in dem Madeleine wohnte, ein neoromanisches Prunkstück, genannt das Narragansett, war ein Jahrhundertwendebau an der abschüssigen Straßenecke von Benefit und Church Street. Zu den Stilelementen, die erhalten geblieben waren – dem Buntglasoberlicht, den bronzenen Wandleuchtern, der marmornen Eingangshalle   –, gehörte der Aufzug. Wie ein riesiger Vogelkäfig war er aus gebogenen Metallstreben gefertigt, ein Wunder, dass er überhaupt noch funktionierte, aber er bewegte sich in Zeitlupe, und während er langsam nach unten sank, nutzte Madeleine die Gelegenheit, sich ein wenig herzurichten. Sie kämmte sich das Haar mit beiden Händen. Sie nahm den Zeigefinger, um sich die Schneidezähne zu polieren. Sie rieb sich krümelnde Wimperntusche von den Augen und befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Schließlich, als sie an der Balustrade im ersten Stock vorbeikam, warf sie einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel an der Wand dahinter.
    Das Beste daran, zweiundzwanzig oder vielmehr Madeleine Hanna zu sein, war die Tatsache, dass drei Wochen Liebesqualen, gefolgt von einer Nacht besinnungsloser Trinkerei, kaum sichtbaren Schaden hinterließen. Bis auf die verquollenen Augen war Madeleine immer noch dieselbe hübsche, dunkelhaarige junge Frau wie sonst. Ihre symmetrischen Gesichtszüge – die gerade Nase, die Katherine Hepburn’sche Wangen- und Kieferpartie – waren wie gestochen, von fast mathematischer Präzision. Nur eine winzige Falte auf der Stirn verriet etwas von der leicht verunsicherten Person, als die Madeleine sich im Innersten fühlte.
    Unten sah sie ihre Eltern warten, gefangen in der Schleuse zwischen der Tür zur Eingangshalle und der zur Straße, Alton in einem Seersucker-Jackett, Phyllida im dunkelblauen Kostüm samt passender Handtasche mit Goldschnalle. Eine Sekunde lang verspürte Madeleine den Impuls, den Aufzug zu stoppen und ihre Eltern einfach dort stehen zu lassen, zwischen dem Müll der Collegestadt – den Postern von New-Wave-Bands mit Namen wie Wretched Misery oder Clits, den pornographischen Egon-Schiele-Zeichnungen des Designstudenten aus dem ersten Stock und all den schrillen, handkopierten Flugblättern, deren Subtext die Botschaft enthielt, dass die erbaulichen patriotischen Werte der Generation ihrer Eltern dem Aschehaufen der Geschichte angehörten, ersetzt durch eine nihilistische Postpunk-Sensibilität, die Madeleine selbst nicht verstand, die sie aber, um ihre Eltern zu schockieren, mit Vergnügen als verständlich ausgab   –, bevor der Aufzug im Erdgeschoss hielt, sie das Gitter aufschob und die Halle betrat.
    Alton war als Erster durch die

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