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Säule Der Welten: Roman

Säule Der Welten: Roman

Titel: Säule Der Welten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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Prolog
    Als Garth Diamandis zum Himmel aufschaute, sah er eine Frau.
    Der Balkon schwankte unter ihm; in der Ferne zitterten die Bäume in der heißen Nachmittagsluft, obwohl kein Wind wehte. Hoch oben, dicht unter dem Gefunkel und der Finsternis der Stadt, die Garth vor so vielen Jahren verstoßen und hierher verbannt hatte, drehte sich eine kleine Wolkenspirale. Unterhalb davon, nicht mehr als dreihundert Meter über ihm, war eine einzelne menschliche Gestalt aus dem Licht aufgetaucht.
    Sie wurde nach oben weggetragen, und Garth musste mehrere Minuten warten, bis sie wieder in Sicht kam. Da - sie glitt mit übernatürlicher Leichtigkeit über die hohe, zerklüftete Mauer, die die Welt zum näher gelegenen Ende hin abschloss. Hinter der stummen Frau lockte, für Garth und seinesgleichen auf ewig unerreichbar, der grenzenlose Luftraum. Vor ihr lagen wahrscheinlich ein Sturz in die hektisch zappelnden Bäume, zahlreiche Knochenbrüche und schließlich der Tod. Falls sie überhaupt noch lebte.
    Da wollte jemand fliehen, dachte er - ein Vorhaben, das unweigerlich damit endete, dass man beschossen oder von einem Schwarm von Piranfalken zerfleischt wurde. Diese Frau war wohl mit einem sauberen Schuss von
der Tagwache erledigt worden, denn sie trudelte allein über den Himmel, ohne eine Wolke von Blutströpfchen hinter sich herzuziehen. Und jetzt fuhr ihr der von der Rotation verursachte Wind unter das fremdländische Gewand, bremste sie ab und zog sie nach unten.
    Garth runzelte die Stirn und vergaß für einen Moment die vielfältigen Schmerzen, die ihn Tag und Nacht plagten. Die Kleider der schwebenden Gestalt waren zu bunt gewesen und hatten zu wild geflattert, um wie in Spyre üblich aus Leder und Metall zu bestehen.
    Nun entfernte sie sich mit der Drehung der Welt, bevor Garth mehr von ihr sehen konnte. Der Boden unter seinen Füßen rotierte mit dem ganzen Zylinder nach oben weg; die schwarzhaarige Frau machte die Bewegung jedoch nicht mit, sondern glitt von einem Ende der beidseitig offenen Welt majestätisch nach innen. Aber Spyre erzeugte durch die Rotation eigene Winde, und die würden sie auf die Oberfläche ziehen, bevor sie auf der anderen Seite wieder hinausfliegen konnte.
    Bis dahin hätte sie beschleunigt, aber nicht genug, um sich Spyres Rotationsgeschwindigkeit anzupassen. Garth wusste genau, was passierte, wenn jemand mit mehreren Hundert Stundenkilometern Baumwipfel und Türme abrasierte. Er würde noch wochenlang Teile von ihr finden.
    Wieder schwankte der Boden unter ihm. In der Ferne heulten Sirenen auf - Spyres Innenfläche und die Stadt darüber führten einen aufgeregten Dialog.
    Bisher hatte er die Frau nur aus Langeweile beobachtet, denn es sah so aus, als würde sie entlang der Bahnlinie herunterkommen. Die Schienenstränge gehörten
Leuten mit mehr Feuer- und Muskelkraft; die würden sie in ein paar Sekunden entdecken und herunterholen. Ihre Wertsachen und ihre Kleider würden nicht ihm zufallen.
    Aber die Sirenen wollten nicht verstummen. Spyres Struktur war bedroht, eine Pendelschwingung baute sich auf. Jetzt sah er selbst, wie sich in weiter Ferne das Land mit winzigen Bewegungen hob und senkte. Die Welle kam langsam auf ihn zu; er sollte die Brüstung schleunigst verlassen.
    Hinter dem offenen Torbogen, der den Balkon zum Haus hin abschloss, befand sich nur leere Luft. Es ging sechs Meter weit in die Tiefe, unten lag loses Geröll. Garth sprang ohne Zögern über das Geländer und zählte: »Ein Pilot, zwei Piloten, drei …« Er landete zwischen Stechgräsern und Dornenranken, die das alte Herrenhaus wie Wolken überwucherten. Drei Sekunden? Immerhin hatte sich die Schwerkraft nicht verändert, jedenfalls nicht merklich.
    Seine Muskeln protestierten, als er sich aufrichtete, aber Klettern und Springen gehörten zu dem täglichen strammen Fitnessprogramm, mit dem er sich selbst davon zu überzeugen suchte, dass er nach wie vor kein alter Mann war.
    Vorsichtig überquerte er auf knirschendem Kies einen gefliesten Tanzboden. Man hatte ohne Rücksicht auf die feinen Pallasitsteine Eisenbahnschwellen über die Fläche gelegt; die Bahnlinie durchschnitt die frühere Nation Arbath wie eine Peitschenstrieme. Garth stellte sich wagemutig auf die Schienen und schaute daran entlang. Die mächtige Familie Arbath hatte sich mit den Konservationisten nicht einigen können und
war, er wusste es nicht mehr genau, entweder vertrieben oder getötet worden. Schutt, Ruinen und neue Mauern flankierten die

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