Glaub nicht es sei vorbei
Prolog
Freitag, 21.20 Uhr
Mit dramatischem Schwung hüllte er sich in seinen Umhang. Seine glühenden Augen loderten aus der Dunkelheit seiner Kapuze hervor. »Du hast dich für die dunkle Seite entschieden«, deklamierte er. Er zückte den leichten Säbel und ließ ihn in großmächtiger Geste durch die Luft sausen, elektrisiert von dem schaurigen, erregenden Surren der Macht. »Ich bin Obi-Wan Kenobi, und ich will dir helfen, den Weg zurück zum Licht zu finden. Kämpfe!«
Sein Gegenüber wand sich vor der Ehrfurcht gebietenden Macht eines Jedi Ritters ...
Plötzlich bekam er keine Luft mehr. Der leichte Säbel glitt ihm aus der Hand, und während er sich aus seinem mystischen Star Wars -Traum kämpfte, löste sich das Gesicht seines Furcht erregenden Feindes in nichts auf. Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber sie waren bedeckt. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, den jedoch ein ekelhaft süßlich schmeckender Stoff erstickte. Er schnappte verzweifelt nach Luft und fing an, wild um sich zu schlagen. Dabei stieß seine Hand an etwas Festes, und er klammerte sich daran und fragte sich, ob das noch zu seinem Traum gehörte. Mami hatte ihm einen geheimen Spruch verraten, mit dem sich ein böser Traum verscheuchen ließ. Er hatte schon lange nicht mehr schlecht geträumt und musste angestrengt nachdenken, bis der Spruch ihm wieder einfiel: Eins, zwei, drei und vier / böser Traum, fort mit dir!
Vor Angst und Übelkeit ganz benommen, wachte er nicht weiter auf. Er konnte die beruhigende Vertrautheit seines Zimmers nicht sehen, weder das Krieg-der-Sterne-Poster noch das Glas mit den zwei schlanken Goldfischen noch die funkelnde blaue Lavalampe, die Mami immer für ihn brennen ließ, bis er eingeschlafen war. Bestimmt schlief er immer noch! Er musste es noch einmal versuchen. Eins, zwei, drei und vier / böser Traum, fort mit dir!
Nichts. Blankes Entsetzen durchfuhr seinen mageren, siebenjährigen Körper, als ihm dämmerte, dass außerhalb seiner Traumwelt irgendetwas Schreckliches, irgendetwas Wirkliches vor sich ging. Noch einmal schlug er wild um sich, doch seine Kräfte ließen nach. Das Tuch presste sich auf sein Gesicht, dass seine Augen und das Innere seiner Nase brannten. Seine Zunge fühlte sich riesig an. Wo war, denn bloß Mami? Bitte, Mami, hilf mir! Er schlug mit einer Hand um sich, traf auf eine Nase und hörte jemanden verhalten fluchen. Was war das für eine Nase? War sie groß? Klein? Gehörte sie einem Mann oder einer Frau?
Panik durchflutete ihn. Gleich würde er sich übergeben. Er hatte Angst wie ein kleines Baby, weil ihm seine Beine kaum noch gehorchten. Er zitterte und hatte das Gefühl, sich jeden Moment in die Hosen zu machen. Etwas wie eine Kapuze stülpte sich über seinen Kopf, aber nicht eine gute wie die am Umhang von Obi-Wan Kenobi, sondern eine raue, kratzige, die modrig roch und ihn am Atmen hinderte. Plötzlich hatte er Schwierigkeiten zu denken. Grelle Blitze flammten vor seinen Augen auf.
Mit der wenigen Kraft, die ihm noch verblieben war, legte er seine Finger um das Bein des Stoffhunds, dem er an manchen Stellen das Fell weggeliebt hatte. Braver, starker, treuer Tramp — sein Beschützer, für immer. Der tapfere Tramp, der in dem Film Die Lady und der Tramp das Baby vor der Ratte gerettet hatte. Tramp konnte ihm helfen.
Und Tramp tat sein Bestes. Jemand zwang ihm die Finger auf, aber der Hund hielt fest, eine Öse an seinem Halsband hatte sich im Schlafanzug verhakt. Lass mich nicht los, flehte er Tramp innerlich an. Lass nicht los!
»Na los, es wird Zeit«, zischte ihm jemand unsanft ins Ohr, in sein verwirrtes Hirn hinein. »Kannst der Welt Lebewohl sagen. Das hier ist der Anfang vom Ende, Kleiner.«
Mit einem Entsetzen, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte, spürte er, wie sein leichter Körper mitsamt dem Stofftier als baumeln dem Gewicht unsanft aus dem Bett gezerrt wurde. Eine Minute später überspülte ihn die Nachtluft, durchdrang seinen schweißnassen Schlafanzug, wehte ihm kalt an die feuchten Füße, strich über seine steifen Finger.
In der Ferne hörte er Hundegebell und unmittelbar an seinem Ohr das hohe Surren einer Stechmücke, bevor er in einen traumlosen, unnatürlichen Schlaf hinüberglitt.
1. Kapitel
Freitag, 21.25 Uhr
»Hier ist Radio WCWT aus Sinclair, West Virginia, mit einem eurer liebsten Oldies, Bitter Sweet Symphony von den Verve.«
Violinenklänge füllten den Wagen, und Rebekka Ryan verdrehte die Augen. »Seit wann ist denn ein
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