Die linke Hand Gottes
aufwenden müssen, dass sich beide sofort verraten hätten.
Vorsichtig linste Cale über den Rand der Brüstung. Was er sah, war noch schockierender als die Berge von Speisen in der Küche. Ihm war, als ob sein Inneres von hundert Stöcken der Erlösermönche geschlagen würde.
In einem großen Saal standen ein Dutzend Tische, die sich unter der Last der Speisen bogen. Die Tische waren im Kreis angeordnet, sodass die dort Versammelten einander sehen konnten. Grund für die Feier waren offenbar zwei ganz in Weiß gekleidete Mädchen. Vor allem eines stach mit seinen schwarzen Haaren und tiefgrünen Augen hervor. Sie war schön, aber mollig wie ein Daunenkissen. In der Mitte des Tischkreises befand sich ein großes Becken mit dampfendem Wasser, in dem sich ein halbes Dutzend Mädchen tummelten. Bei ihrem Anblick weiteten sich Cales und Kleists Pupillen und ein Entzücken überkam sie, als dürften sie ins himmlische Paradies schauen.
Denn die Mädchen im Wasserbecken waren nackt. Je nach Herkunft waren die einen rosa, die anderen schokoladefarben, aber alle hatten üppige Formen. Doch nicht allein die Nacktheit verstörte die Jungen, sondern die Tatsache, dass sie nie zuvor eine Frau gesehen hatten.
Wer könnte sagen, was sie fühlten? Welcher Dichter träfe den richtigen Ausdruck für die Angst und gleichermaßen für den Schrecken?
Vague Henri, der nun ebenfalls über die Brüstung spähte, stieß ein erstauntes »Oh!« aus.
Der Laut brachte Cale wieder zur Besinnung. Er duckte sich. Sekunden später brachten sich seine beiden Kameraden, bleich und mit verstörter Miene, ebenfalls in Deckung.
»Wundervoll«, flüsterte Henri halb zu sich selbst. »Einfach wundervoll.«
»Wir müssen weg von hier, oder sie schlagen uns tot.«
Cale ließ sich auf Hände und Knie nieder und krabbelte zur Tür, die anderen folgten ihm. Sie schlichen nach draußen und horchten an der Treppe. Nichts. Sie stiegen treppab und eilten den Gang entlang. Sie hatten Glück, denn von den gewieften und umsichtigen Jungen, die sie vor dem schockierenden Anblick gewesen waren, war kaum etwas übrig geblieben. Aufgewühlt und entzückt zugleich, erreichten sie einen Türbogen, der zu einem anderen Gang führte. Sie nahmen die Abzweigung nach links, weil ihnen nichts Besseres einfiel.
Da ihnen nur noch eine halbe Stunde für den Rückweg zum Schlafsaal blieb, begannen alle drei zu laufen, doch keine halbe Minute später erreichten sie eine schwere Tür. Alle drei machten ein verzweifeltes Gesicht.
»O weh«, flüsterte Henri.
»In vierzig Minuten haben sie einen Suchtrupp aufgestellt.«
»So wie wir hier feststecken, werden sie nicht lange brauchen, um uns ausfindig zu machen.«
»Und was dann? Sie werden auf jeden Fall verhindern, dass wir über das reden, was wir gesehen haben.«
»Dann müssen wir abhauen«, entschied Cale.
»Abhauen?«
»Du meinst weggehen und nie wiederkommen?«
»Wir kommen noch nicht mal hier weg«, sagte Kleist, »und du redest davon, der Ordensburg den Rücken zu kehren.«
»Haben wir denn überhaupt eine Wahl?« Doch Cales Erwiderung wurde vom Geräusch eines Schlüssels unterbrochen, der sich im Schloss der Tür vor ihnen drehte. Die Tür war mächtig, mindestens sechs Zoll dick, sodass ihnen ein paar Sekunden blieben, um ein Versteck zu finden. Aber da war kein Versteck.
Cale bedeutete den anderen beiden, sich an die Wand zu drücken, wo sie durch die aufgehende Tür vor Blicken geschützt wären, wenn auch nur, bis die Tür wieder geschlossen würde. Sie hatten keine Wahl: Liefen sie nicht zurück, steckten sie hier fest, bis ihr Fehlen im Schlafsaal bemerkt würde. Man würde sie rasch finden und ihnen einen qualvollen Tod bereiten.
Da ging die Tür ein Stück weit auf, was wohl einige Anstrengung gekostet hatte, nach dem Stöhnen und Fluchen zu schließen, das gleichzeitig zu hören war. Weitere Ausdrücke übler Laune folgten, die Tür ging noch weiter auf und kam plötzlich zum Stillstand. Dann wurde ein kleiner Holzkeil unter die Tür geklemmt, damit sie offen blieb. Erneutes Stöhnen und Fluchen, dann das Geräusch einer Lastkarre. Cale, der an der Türkante stand, spähte vorsichtig daran vorbei und sah eine bekannte Gestalt in einer schwarzen Kutte, die hinkend eine Karre schob und im nächsten Augenblick um eine Ecke verschwand. Er gab den anderen ein Zeichen und schlüpfte schnell durch die offene Tür.
Nun standen alle drei draußen im kalten Nebel. Eine weitere, mit Kohle beladene
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