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Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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vor, wie fremd die Farben und Formen der Welt einem Blinden vorkommen müssen, der plötzlich das Augenlicht wiedergewinnt, oder die Klänge eines Flötenkonzerts einem Taubgeborenen, dem das Gehör geschenkt wird.
    Indes, so verblüfft sie auch waren, der Hunger löste ihren Bann. Affengleich schwangen sie sich über den vollbeladenen Tisch hinweg in die Mitte der Küche. Da standen sie nun ungläubig staunend vor dem Überfluss. Sogar Cale hätte beinahe vergessen, dass die Luke in der Decke wieder geschlossen werden musste. Betäubt von Wohlgeruch und Farbenpracht der Speisen stellte er ein paar Schüsseln beiseite und stieg auf den Tisch. Nur mit Mühe erreichte er die Luke und gab ihr einen Stoß, sodass sie wieder einrastete.
    Währenddessen fielen seine Kameraden mit der Gewandtheit erfahrener Plünderer über die Speisen her. Dabei nahmen sie immer nur ein Stück aus jeder Schüssel und von jeder Platte und verschlossen die Lücke, damit es den Anschein hatte, dass nichts fehlte. Ein paar Bissen Hühnerfleisch und Brot konnten sie sich nicht verkneifen, doch die übrige Beute wanderte in die Geheimtaschen ihrer Kutten.
    Cale wurde übel von den schweren Düften, die ihm zu Kopf stiegen und an den Rand einer Ohnmacht brachten, so als enthielten sie ein verborgenes Gift.
    »Esst nichts davon. Nehmt nur, was ihr versteckt bei euch tragen könnt.« Die Mahnung galt auch ihm selbst.
    »Wir müssen uns aus dem Staub machen, jetzt gleich.« Cale ging zur Tür. Als ob Kleist und Vague Henri aus einem schweren Schlaf erwachten, kam ihnen erst jetzt zu Bewusstsein, in welcher Gefahr sie schwebten. Cale horchte einen Augenblick an der Tür und öffnete sie behutsam einen Spalt breit. Vor ihm tat sich ein Gang auf.
    »Keine Ahnung, wo wir sein könnten«, sagte er. »Aber wir müssen auf jeden Fall Deckung suchen.« Damit trat er in den Gang. Die anderen folgten ihm vorsichtig.
    Rasch und immer dicht an der Wand entlang, folgten sie dem Flur. Nach wenigen Schritten stießen sie auf eine Treppe, die nach oben führte. Vague Henri wollte schon hinaufgehen, doch Cale schüttelte den Kopf. »Wir müssen ein Fenster finden, damit wir eine Vorstellung kriegen, wo wir überhaupt sind. Wir müssen noch vor dem Löschen des Lichts wieder zurück im Schlafsaal sein, sonst merken sie, dass wir fehlen.« Sie gingen weiter, doch linker Hand wurde plötzlich eine Tür geöffnet.
    Sofort machten sie auf den Hacken kehrt und eilten zur Treppe zurück, die sie diesmal hinaufstürmten. Alle drei legten sich flach auf den Boden, da hörten sie schon Stimmen im Gang unter ihnen. Eine weitere Tür ging auf. Cale hob den Kopf und sah eine Gestalt, die auf die Küche zusteuerte, in der sie vor einem Augenblick noch gewesen waren.
    Vague Henri sah ihn verwirrt an. »Diese Stimmen eben«, begann er. »Was war mit denen los?«
    Cale schüttelte abwehrend den Kopf, aber auch ihm waren sie merkwürdig vorgekommen und hatten ein flaues Gefühl im Magen hinterlassen. Er stand auf und blickte sich um. Hier gab es kein Entkommen außer durch eine Tür hinter ihnen. Rasch drückte er auf die Klinke und glitt in die Kammer dahinter. Doch es war gar keine Kammer, sondern eine Empore, die von einer niedrigen gemauerten Brüstung abgeschlossen wurde. Cale robbte bis an die Brüstung, die beiden anderen folgten seinem Beispiel. Nun duckten sie sich alle hinter die Mauer.
    Aus dem Raum unterhalb der Empore drang lautes Gelächter und Händeklatschen.
    Was die drei Jungen verstörte, war nicht so sehr das Gelächter, obgleich Lachen nur selten in der Ordensburg zu hören war und nie in dieser Lautstärke und in diesem vergnügten Ton. Was sie verstörte, das war der helle Klang. Wie schon bei den Stimmen, die sie kurz zuvor im Gang vernommen hatten, stieg eine bisher unbekannte Erregung in ihnen auf.
    »Schauen wir uns das mal an«, flüsterte Henri.
    »Nein«, hauchte Cale.
    »Doch, das müssen wir, oder ich mache es allein.«
    Cale packte ihn am Armgelenk. »Wenn sie uns erwischen, sind wir tot.«
    Widerwillig zog sich Vague Henri unter die Brüstung zurück. Von unten schallte erneut Gelächter herauf, aber diesmal behielt Cale seinen Kameraden im Auge. Unterdessen hatte sich Kleist hingekniet und schaute gebannt auf das sorglos heitere Treiben im Saal. Für einen Zögling war Lachen nur ein kurzer, mit Hohn und Bitterkeit gemischter Gefühlsausbruch. Cale wollte Kleist wegzerren, doch der war sehr viel stärker als Vague Henri – er hätte so viel Kraft

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