Die Listensammlerin
Buch war ein «Büchlein», auch Werke Tolstojs. Aber ich war Sofia, und wann immer es passte, betonte meine Mutter die Würde in diesem großen Namen, dem Namen der großen Frau eines großen Mannes. Als Kind war ich stolz, einen würdevollen Namen zu tragen, obwohl ich keinen Schimmer hatte, was Würde war und wie man sie trug, und mir unter Würde etwas Unsichtbares vorstellte, das man wie eine zerbrechliche Schale vorsichtig zu halten hatte.
Es waren komische Tage, diese Tage mit nächtlichen Begegnungen, unerwarteten Funden und unverhofften Gesprächen, in denen bislang Unausgesprochenes in halben Silben genannt und trotzdem nicht alles gesagt wurde.
Ich erinnerte mich an eine Liste mit den Momenten, in denen mich meine Mutter Sofotschka genannt hatte. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr gebraucht und wusste nicht, wo sie war, im blauen Ordner vielleicht. Dort legte ich Listen ab, die ich zusammen mit Lebensabschnitten abschloss. Die Liste meiner Kuscheltiere, meiner besten Schulnoten, meiner schlechtesten Schulnoten, der Jungs, die ich süß fand, der Bands, zu denen ich gehören wollte, der Dinge, die ich mir kaufen, wenn Frank mein Taschengeld erhöhen würde, der Jungs, die ich gerne küssen würde, ohne mit ihnen zusammen zu sein, der guten/schlechten/witzigen/interessanten/tollen Lehrer, der Liste möglicher Studienfächer, der Dinge, die ich tun würde, wenn ich mal ausziehen würde, und so fort. Meine Mutter hatte mich fast nie mit Sofotschka angesprochen, den Namen aber fast immer verwendet, wenn sie auf Russisch über mich sprach, mit meiner Großmutter oder ihrer einzigen russischen Freundin Ludmila. Ich hatte sie mal gefragt, warum sie mich nie so nannte, sie hatte mit den Schultern gezuckt und geantwortet: «Weiß nicht. Vielleicht, weil ich nicht Russisch mit dir spreche. Und der Name Sofia ist so schön, so erhaben, du trägst ihn mit Würde. Ich mag, dass du meine Sofia bist.» Aber «ihre» Sofia wollte ich, damals schon, nicht mehr sein. Ich achtete peinlichst genau darauf, Anna niemals als die «meine» zu bezeichnen. Ich konnte mich an die Liste nicht mehr genau erinnern, aber wahrscheinlich war ich krank oder meine Mutter aus anderweitigen Gründen besorgt gewesen, wenn sie mich Sofotschka nannte.
Es waren wirklich sonderbare Tage, an denen sich alles von selbst ergab, irgendwie über mich kam, ohne mein Zutun, ich wunderte mich nur, stand daneben und beobachtete mich selbst wie die anderen, als seien wir in einem Film. Hunde hatten meine Großmutter gefunden, Frank hatte ein altes Foto entdeckt, Annas letzte OP stand an, Listen tauchten auf, und ich fragte meine Mutter – in jener Nacht, in der wir uns unverabredet in einem Krankenhausflur getroffen hatten und nun nebeneinandersaßen – nichts. Neben ihr auf dem Stuhl stand ihre große Tasche, zu groß, weil sich darin außer ihrer Haarbürste, die sie immer mit sich trug, ihrem Portemonnaie und einer Packung Taschentücher nichts befand, wie ich gesehen hatte, als sie die Hustenbonbons herausnahm. Hatte meine Mutter früher nicht immer ein Buch dabeigehabt? Hatte ich nicht von ihr gelernt, dass man ohne Buch nicht aus dem Haus geht, niemals? Wenn ich mir eine Handtasche kaufte, auch eine kleine für Hochzeiten oder andere besondere Anlässe, achtete ich darauf, dass ein Taschenbuch hineinpassen würde. In meinem grünen Rucksack neben mir auf dem Boden befand sich ein Buch, in dem ich schon seit Tagen nicht mehr gelesen hatte. Es hatte ausnahmsweise nichts mit Anna und meiner Rolle als Mutter zu tun.
Frank hatte gemeint, ich solle meiner Mutter nichts sagen.
«Sag deiner Mutter nichts davon.»
Und ich hatte nicht widersprochen und nicht nach dem Warum gefragt. Frank wusste, was gut für meine Mutter war, schon immer, ich hatte mich immer daran gehalten und nickte auch nun gehorsam wie ein Kind. Frank äußerte selten Ansprüche und Wünsche an mich.
Hatte er es ihr gesagt?
Meine Mutter schwieg, und anstatt sie zu fragen, sagte ich aus irgendeinem Grund: «Morgen wird Anna operiert. In ein paar Stunden eigentlich schon.»
«Ich weiß.»
Ich kannte den Satz, der nun folgen würde. Seit Flox und ich seine Eltern ins Hotel verabschiedet hatten, hatte ich den Satz nicht mehr gehört.
«Es wird alles gut. Nur noch diese eine OP . Sie ist so ein starkes Mädchen, sie macht das schon. Und dann kann sie ganz normal leben!» Woher wusste jeder außer mir, was ganz normal war? Achtzig Prozent der normalen Herzleistung, sagten die
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