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Die Listensammlerin

Die Listensammlerin

Titel: Die Listensammlerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Ärzte, ganz normal? Gesteigerte Lebenserwartung. Manche Kinder könnten sogar beim Schulsport mitmachen, erzählten sie mir begeistert. Ich hatte Schulsport gehasst.
    Ich schaffte es, die Augen nicht zu verdrehen und nicht zu seufzen, sondern zu nicken.
    «Ich weiß.»
    «Wenn Großmutter geht, dann wird sie ihre Kraft an Anna weitergeben. Ich glaube daran, dass Dinge aus einem bestimmten Grund passieren. Ich glaube, dass es vielleicht so sein soll. Verstehst du?»
    Ich hatte diesen Gedanken auch schon gehabt und natürlich wieder verworfen, aber meiner Mutter konnte ich das selbstverständlich nicht offenbaren, also schwieg ich immer noch.
    «Wenn Großmutter geht, dann ist es wahrscheinlich gut so. Sie wird dann bei ihrem Mann sein, bei ihren Eltern. Sie hat jetzt so oft nach ihrer Mama gefragt. Jeden Tag, immer wenn ich da war. Sie flüsterte immer: ‹Mama, Mama.› Sie wird bei ihrer Mama sein. Bei Grischa wird sie sein.»
    Frank hatte es ihr also erzählt.
    Meine Mutter nahm das Wort «sterben» nicht in den Mund. Niemand nahm dieses Wort gern in den Mund, selbst die Ärzte und Krankenschwestern nicht. Gehen lassen, sich von uns verabschieden, freigeben, loslassen, einschlafen, einschlummern, heimgehen, entschlafen, so weit sein, ich führte eine Liste mit Synonymen, die sie alle zu brauchen schienen, um nicht die Wahrheit sagen oder hören zu müssen. Einmal hatte ich Flox angeschrien: «Wenn sie tot ist, dann ist sie tot, verstehst du, tot», und Flox war entgeistert gewesen: «Das will ich nicht hören», war gegangen und erst mitten in der Nacht wieder zurückgekommen. Er sagte nichts, als er sich neben mich legte, und am nächsten Morgen sprachen wir nicht wieder davon.
    «Frank hat dir von Grischa erzählt?»
    «Ja.»
    «Das ist gut.»
    «Erzählst du mir auch?»
    «Was willst du denn wissen?» Nach all den Jahren fragte sie mich, was ich denn wissen wollte. Und mir fielen die tausend Fragen, die sich seit gestern in meinem Kopf drehten, sich verdichteten und vermengten, mich sogar von der OP ablenkten, nicht mehr ein. Ich beugte mich herunter, kramte in meinem Rucksack, holte mein Notizbuch hervor, schlug es sofort an der richtigen Stelle auf.
    «Liste unbeantworteter Fragen über Grischa»
    Ich versuchte seit Jahren, meiner Mutter, wenn möglich, den Anblick eines Notizblocks und ihrer Tochter, die in diesen Notizblock wie fieberhaft notierte, in unpassenden Momenten, während des Essens, beim Autofahren an einer Ampel, beim Im-Topf-Rühren oder Wickeln, zu ersparen, weil ich wusste, der Anblick tat ihr weh. Ich hielt meiner Mutter den Block wortlos hin. Sie las, schmunzelte, blätterte, schien sich an der Liste gar nicht zu stören.
    «Grischka hat auch immer Listen geschrieben. Wusstest du das?»
    «Ich habe es mir denken können. Ich hab die Listen doch gefunden, seine Listen, oder?»
    Sie nickte, zaghaft, als habe sie mich nicht richtig gehört.
    «Er hat immer etwas geschrieben oder gezeichnet. Schon als wir Kinder waren. Er war sehr gut im Zeichnen. Porträts, Karikaturen, als Kind hat er immer seine Lehrer und unsere Eltern skizziert. Später auch andere, Politiker zum Beispiel. Er hat auch sehr schön fotografiert. Und immerzu irgendwas notiert. Er hatte Talent. Viele Talente, unser Grischka.»
    Es war in der Nacht, in der meine Großmutter vor sich hin fieberte und nach der sie morgens um sechs Uhr einundzwanzig verstarb, eine halbe Stunde nachdem ich mich auf den Weg nach Hause gemacht hatte, um Flox und Anna zu wecken, dass meine Mutter von Grischa zu erzählen anfing und bis in die frühen Morgenstunden nicht mehr aufhörte. In keinem Moment während dieser Stunden war ich mir sicher, ob sie diese Geschichten für mich oder für sich oder für Großmutter, die hinter der Tür lag, erzählte, weil sie mich nicht einmal anblickte, keine Reaktionen erwartete und manchmal lachte, obwohl sie noch gar nicht bei der Pointe angekommen war. Einmal weinte sie ein wenig, reagierte aber nicht, als ich sie, unangenehm berührt, darauf hinwies, sie habe doch eine Taschentuchpackung dabei. Was sie erzählte, beantwortete manche meiner Fragen, andere nicht. Die meisten Geschichten handelten von ihrer Kindheit, von einem Jungen, der anders war als alle anderen Kinder, einem Jungen, mit dem ich gern gespielt hätte, der so war, wie ich gerne gewesen wäre, von ihrem großen Bruder, den sie liebte und fürchtete zugleich. Das Ende dieser Geschichten, das Ende dieses Jungen hatte mir Frank erzählt, so gut er

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