Die Listensammlerin
sich ihr Gesicht aufgeplustert hatte. Ich mochte die runzelige, rau-trockene Haut mit den Muttermalen nicht, die wie braune, rötliche Knetestückchen von ihren Wangen hingen, sie waren früher nicht da gewesen. Ich mochte sie nicht berühren. Sie saß da wie eine in sich zusammengesackte Schaumstoffpuppe und starrte leer an mir vorbei, mit einem Blick, der mich jedes Mal aufs Neue erschreckte. Wie sie in eine Welt schaute, zu der weder ich noch ein anderer Zugang hatte. Die Vorstellung, dass sie eine eigene Welt hatte, war schöner als der Gedanke, der mir einmal durch den Kopf schoss, nämlich dass sie aussah, als hätte sie ihr Gehirn und ihre Persönlichkeit ausgekotzt, als wäre ihr Kopf leer, ein leerer, aufgeblasener Luftballon, dem die Luft langsam entweicht, weshalb er runzlig wird. Manchmal dachte ich, ich mochte sie als Ganzes nicht mehr, als Mensch, aber dann schämte ich mich für diesen Gedanken, noch mehr, als ich mich dafür schämte, sie nicht küssen zu wollen. Ich beugte mich immer zu ihr, so, dass meine Wange möglichst kaum die ihre streifte, und küsste die Luft.
Ich wünschte mir so, dass sie mich erkennt. Manchmal dachte ich, nichts auf der Welt (bis auf ein gesundes, ganzes Kleinkindherz für Anna natürlich) würde ich mir mehr wünschen als diesen einen Augenblick, in dem sie mich wieder mit ihren gütigen, leicht strengen Augen anschauen würde. Ich dachte, wenn wir in einem Film wären, würde sie mich noch einmal erkennen, mich noch einmal belächeln, «Ach du …», bevor sie starb. Ein Lächeln, ach, nur ein Fünkchen Erkennen und Wiedersehensfreude in ihren Augen hätten mir gereicht. Ich wollte kein «Ich liebe dich!», auch keinen letzten weisen Rat fürs Leben, ich wünschte mich ja nicht in einen Hollywoodfilm. Es musste aber auch kein Dogmastreifen sein, in dem ich lebte. Ein angedeutetes Lächeln hätte mir gereicht. Ich begann eine neue Liste «Wenn wir in einem Film wären». Als Erstes schrieb ich: «dann gäbe es am Ende, nach langem Zweifeln und Bangen, doch noch einen Wunderarzt, der aus dem halben ein ganzes Herz macht.» Dann dachte ich beim Schreiben, dass ein europäischer Film statt mit einem Wunderarzt doch eher mit dem Tod enden würde, und änderte vorsichtshalber den Listennamen: «Wenn wir in einem Hollywoodfilm wären.»
Am ehesten registrierte sie noch Anna, auch wenn sie sie selbstverständlich nicht kannte. Alle freuten sich über Anna, die Alten nicht weniger als die Pfleger. Alle außer Ralf, Ralf brüllte immer, wenn er Anna sah, etwas, das ich nicht näher verstand, zwei, drei Worte, die in einem «Aaaaah» endeten. Erst nahm Anna das gar nicht zur Kenntnis, dann fand sie es komisch, später hatte sie Angst. Am liebsten lief Anna durch den Flur, an dessen Wänden ein Geländer angebracht war für diejenigen, die schlecht laufen konnten (also alle bis auf Pflegepersonal und Besuch), und an diesem Geländer wiederum hingen Dinge, Seidentücher, Lametta, Krawatten, Lederriemen und andere Stofffetzen, Anna fasste sie gerne an, untersuchte sie, zog an ihnen und kicherte dabei. Als sie älter wurde, schwand das Interesse, sie zog nur noch daran in der Hoffnung, etwas herunterreißen zu können, bei Lametta klappte das, sie ließ es auf dem Boden liegen, ich hob es auf und warf es in den Müll. Diejenigen aber, für die dieses Spielzeug eigentlich angebracht worden war, freuten sich darüber, solange sie Kraft und Hirn genug hatten, diese knisternden und weichen und samtigen und rauen und pieksigen und raschelnden Stoffe anzufassen. Herr Blaumeier, erzählte die Polin, war in seinem Rollstuhl am Geländer gestorben, mit einer Krawatte in der Hand. Im Altenheim ging es zu wie in Annas Kita, erst gab es Frühstück, für die ganz Kleinen wie für die ganz Alten möglichst weiches Brot, das sie nicht kauen mussten, dann spielten und malten sie (etwa auf demselben Niveau, das Geländer mit den Stofffetzen hatte etwas von Montessori-Pädagogik), die Kleinen liefen ähnlich wackelig wie die Alten, hielten sich ab und zu fest. In der Kita wie im Heim gab es manchmal Musik, die Kleinen wie die Großen konnten noch nicht bzw. schon nicht mehr singen, sie machten «lalala», während jemand, der für Unterhaltungsmaßnahmen bezahlt wurde, Gitarre oder Klavier spielte und sang. Vor dem Mittagessen ging man Hände waschen, zum Mittagessen gab es Lätzchen, kleingeschnittenes Essen, gerne Püree oder Brei jeglicher Art. Nach dem Essen Windelwechseln (auch im Heim) und
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