Die Lokomotive (German Edition)
geborstenen Wänden. Eine trübe Reflexion im Wasser.
Herr Baehr warf den Kopf zur anderen Seite. Ich sollte nicht seine verweinten Augen sehen, die feuchte Bahn zog sich vom Augenwinkel bis zum Ohr. Mit tiefer kontrollierter Stimme sagte er leise, „Was tun Sie denn da? Sie verschwenden das Benzin.“
Ich schwieg und schaute auf ihn herab.
Er flüsterte, „Es tut mir so leid.“
Ich fühlte mich peinlich berührt durch die Intimität des Moments. Dies war keine Situation, auf die man vorbereitet wurde, oder auf die man sich vorbereiten konnte. Augenblicke wie diese geschahen wenn überhaupt im engsten Familienkreis. Zögerlich näherte sich ihm meine verletzte Hand, unsicher, ob ich ihn wirklich berühren würde, diesen alten Mann, und ich legte eine Hand auf seine Stirn.
Er wiederholte noch einmal, jetzt nur gehaucht, „Es tut mir so sehr leid.“
Still brannte die Flamme, und die Schatten bewegten sich unmerklich zwischen all den Streben und Schläuchen und Platten, so dass die länglichen verbogenen Trümmerteile pulsierten wie die Adern und Venen eines gigantischen Organismus.
Niemals hatte ich mir vorstellen können, mir würde jemand eine solche Geschichte beichten. Aber ich wusste auch, dass ich irgendetwas sagen musste, wenn möglich von Bedeutung.
„Ich glaube, Herr Baehr, ihr Vater weiß, dass es Ihnen leidtut.“
Er ließ meinen Satz regungslos auf sich wirken. Hatte ich wirklich das Richtige gesagt? Aber jetzt, wo es raus war, konnte ich es nicht mehr zurücknehmen.
„Herr Baehr?“
Ich lächelte flüchtig, er war eingeschlafen, und ich beugte mich vor, um nachzusehen. Ein offenes Auge starrte über das dreckige Wasser hinweg in das Dunkel des Trümmerhaufens, das andere lag unter Wasser. Die Iris als hellgrauer Halbmond im trüben Meer.
„Herr Baehr!“, rief ich und schnickte vor seinem Auge mit den Fingern, ohne dass die Lider auch nur zuckten. Das Wasser plätscherte leise unter meinen Bewegungen.
Ich suchte seinen Puls am Hals, aber ich spürte nichts, nur schlaffe Haut. Angewidert zog ich meine Hand zurück. Mit meinem ganzen Körper fiel ich rückwärts, bis sich ein Gegenstand in meinen Rücken bohrte. Ich schrie, ich kreischte und riss einhändig an jedem Trümmerteil, das ich zu fassen bekam, während meine Hand mit dem Zippo herumwirbelte und die Flamme fauchend durch die Höhle kreiste. Keine Platte, keine Stange, keine Strebe schien locker, die Trümmer in ihrer zufälligen Anordnung blieben starr, wie zusammengeschweißt in alle Ewigkeit.
Ich warf mich zu allen Seiten. Das Wasser spritzte mir bis ins Gesicht, und die von mir erzeugten Schatten tanzten hektisch über die zerfetzten Wagonreste, deren stählernen Arme nach mir zu greifen drohten. Wellen schwappten respektlos und gleichgültig über Herrn Baehr.
Ich hielt inne, außer Atem, Tränen schwemmten die Anspannung aus meinem Körper, meine Glieder wurden leicht, und wenn ich nicht gekniet hätte, wäre ich zu Boden gegangen. Meine Schultern sackten herab, und meine Hand klatschte ins Wasser. In meinen Armen befand sich der Rest Kraft, mit der ich mich abstützen konnte, kniend, mit den Ellbogen im Dreck und die Handballen an den Schläfen. Unverständliche Worte, eher Seufzer, die jahrelang in meiner Brust geschlummert hatten, wichen über meine Lippen, ohne dass ich die Zunge bewegte. Kehlige Laute, wie aus einem anderen Leben, aus einer anderen Zeit.
Es war nicht möglich, es war ziemlich sicher, dass ich hier nicht lebend rauskam. Dieser Berg aus Stahl würde mein Grab werden. Herr Baehr war bereits gestorben. Er war tot. Ein Mensch war in meinen Händen gestorben. Eine Weile schaute ich ihn einfach nur an, dann wurde mir klar, es war an mir, ihm die Augen zu schließen.
Ich keuchte. Mit der Hand fuhr ich durch mein Gesicht und flüsterte, „Was in der Welt muss ich denn noch tun?“
Warum überhaupt die Augen schließen? War das etwas Religiöses? Christliches? Oder eine weltweite Geste der Menschlichkeit gegenüber den Toten? Ich wusste es nicht, ich wusste nur, ich würde ihn so nicht hier liegen lassen können.
„Diesen Gefallen hätten Sie mir tun können, ihr Augen selber schließen.“
Meine Finger waren steif, nass und kalt, und bei meinem ersten Versuch, mit meinem Daumen sein Auge zu schließen, traf ich den Augapfel, trocken wie eine gepellte Lychee, und mir wurde schwindelig vor Ekel, „Ah ... Entschuldigung, oh Gott“, dann
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