Die Lutherverschwörung - historischer Roman
schaute den Kindern beim Spielen zu. Etwa zehn Jungen und Mädchen bauten Schneemänner und bewarfen sich mit Schneebällen. Anna klapperte mit den Zähnen und hielt die Arme vor ihrer Brust verschränkt, die Hände in den Ãrmeln verborgen; die eisige Kälte durchdrang Mark und Bein. Martha versuchte ein gröÃeres Mädchen einzufangen, das erst zwischen den zwei Schneemännern davonlief und dann den Fluss ansteuerte. Anna bekam plötzlich Angst, Martha könne ins Wasser fallen. Aber die beiden drehten rechtzeitig ab und rannten zurück zu den anderen.
Die Kinder hatten die freie Fläche in Elbnähe gewählt, weil hier der Wind viel Schnee anwehte. Ihr Geschrei lärmte durch die Stille der Flusslandschaft. Am Ufer hatte sich noch mehr Eis gebildet, und wenn die Kälte anhielt, würde irgendwann eine Eisdecke den Strom überziehen. Seit Berthold fehlte, fühlte sie sich oft schutzlos ausgeliefert.
Eben, als sie glaubte, Martha könne in den Fluss fallen, verstand sie, dass die Angst mit ihrer Tochter zu tun hatte. Solche plötzlichen Attacken waren besonders nachts unerträglich, in einem Zustand zwischen Wachsein und Traum. Am Tag konnte sie ihre Ãngste einigermaÃen kontrollieren, denn ganz verschwanden sie nie. Ein eigenartiges, in Worte gar nicht fassbares Gefühl blieb zurück, das sie mit einem übermalten Bild verglich. Sie hatte so etwas in Cranachs Werkstatt gesehen: Ein düsteres Gemälde, bevölkert mit Gestalten aus der Hölle, ein visualisierter Alptraum; und darüber malte einer der Gesellen eine Verkündigungsszene, Maria mit dem Engel, in heiteren, freundlichen Farben.
Die Nacht brach schnell herein um diese Jahreszeit, und Schnee fiel in vereinzelten, dicken Flocken vom Himmel. Schon verwischte er die Spuren, die die Kinder beim Herumtoben hinterlassen hatten. Martha und Anna gingen Hand in Hand auf das Stadttor zu, während die anderen schon vorausgeeilt waren. Als sich Anna noch einmal umschaute, sah sie den schwarzen Fluss und die zwei weiÃen Schneemänner, die sehr verlassen wirkten, als seien sie allein auf der Welt.
Kurze Zeit später saà der Cranachsche Haushalt, etwa zwanzig Menschen, um zwei Tische versammelt zum Abendessen. Der Meister am Kopfende, neben ihm der Apotheker und neben diesem Anna. Cranach wandte sich ihr zu: Der Pilger, sie wisse schon, dieser Peter Zainer, habe noch ein Bild bei ihm in Auftrag gegeben. Sein Geldbeutel scheine wirklich gut gefüllt zu sein, denn er zahle immer im Voraus, ein sympathischer Mann übrigens. Zainer habe ihn gefragt, ob ihm ein Bild bekannt sei, das Jesus im Alter von sieben oder acht Jahren zusammen mit seiner Mutter zeige. »Ich dachte nach und muss gestehen: Mir fiel keines ein.«
Anna spürte, dass alles, was Cranach sagte, etwas mit ihr zu tun hatte, aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Während sie noch rätselte, fuhr er fort: »Er bat mich, ein solches Bild zu malen, und ich war verblüfft, denn es ist schwierig, etwas zu erschaffen ohne ein Vorbild. Darf ich als Maler überhaupt eine Szene darstellen, über die die Bibel nicht berichtet? Ich fragte mich, was Martin wohl dazu sagen würde. Er würde sagen, überlegte ich, dass nichts dagegenspricht, solange es dem Geist der Heiligen Schrift nicht widerspricht. Also sagte ich zu.«
Langsam begann Anna zu ahnen, worauf es hinauslief: Sie sollte Cranach offenbar als Maria Modell stehen. Das war zwar absurd, aber zum Glück konnte niemand in sie hineinschauen. Sie beobachtete, wie Martha Cranachs ältesten Sohn an den Haaren zog, weil er ihr ein Stück Käse gestohlen hatte. Obwohl die Hausherrin am anderen Tischende saà und neben ihr die Gesellen lärmten, schien ihr von den Worten ihres Mannes keines zu entgehen.
»Ich möchte deshalb, dass ihr mir beide Modell steht: du und Martha.«
»Martha? Wieso Martha?« Anna merkte, dass sie lauter gesprochen hatte, als zum Anlass passte.
Cranach beugte den Kopf über den Tisch näher zu ihr hin. »Du als Maria ⦠und Martha ⦠verstehst du nicht? Sie ist das siebenjährige Jesuskind.«
»Aber sie ist doch ein Mädchen!«, rief Anna. Sie wollte Martha unter allen Umständen aus dieser Geschichte heraushalten.
»Um die Wahrheit zu sagen,
er
hat diesen Wunsch geäuÃert. Aber was spricht dagegen? Das ist doch gängiger Brauch. Es gibt einen groÃen Künstler
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