Zeiten des Verlangens
1
An der Kreuzung Fifth Avenue und Zweiundvierzigste Straße blieb Regina Finch stehen. Passanten drängten rechts und links an ihr vorbei und rempelten sie an, wie Wellen, die einen Felsen umspülten. Seit einem Monat war sie nun schon in New York, aber an die Rush Hour hatte sie sich noch immer nicht gewöhnt.
Doch heute ließ sie sich von dem Gedränge nicht beeindrucken. Heute trat sie ihren Traumjob an, und von diesem Tag wollte sie jede Minute auskosten. Vor nur einem Monat hatte Regina ihren Abschluss in Bibliothekswissenschaften an der Drexel University gemacht, und schon war sie auf dem Weg in die großartigste Bibliothek des Landes.
Staunend betrachtete sie das neoklassizistische Bauwerk, ein architektonisches Meisterwerk aus weißem Kalkstein und Marmor. Etwas Schöneres als die New York Public Library konnte sie sich einfach nicht vorstellen.
»Sie betrachten die Zwillinge?«, fragte eine ältere Dame. Ihr Haar war weiß mit einem Touch ins Rosafarbene, sie trug einen petrolblauen Anzug mit glänzenden Goldknöpfen und hielt ein kleines weißes Hündchen an einer kristallbesetzten Leine.
»Wie bitte?«, fragte Regina.
»Die Löwen«, sagte die Dame. Ach so, die Löwen. Rechts und links der breiten Steintreppe, die zum Eingang der Bibliothek emporführte, saßen zwei majestätische weiße Marmorlöwen auf steinernen Sockeln, als würden sie das Wissen in dem Gebäude bewachen.
»Ja, die Löwen gefallen mir.« Reginas Mitbewohnerin hatte sie zwar ermahnt, sich nicht von jedem Verrückten auf der Straße anquatschen zu lassen, aber sie kam nun mal aus Pennsylvania und konnte einfach nicht unhöflich sein.
»Geduld und Standhaftigkeit«, erklärte die Dame. »So heißen sie.«
»Tatsächlich?«, fragte Regina. »Das wusste ich nicht.«
»Geduld und Standhaftigkeit«, wiederholte die Dame, dann ging sie weiter.
❊ ❊ ❊
Regina wusste nicht recht, wie sie ihrer neuen Chefin Sloan Caldwell klarmachen sollte, dass sie keine Führung zur Orientierung brauchte – dass sie diese Bibliothek seit ihrer Kindheit oft genug besucht hatte. Aber Sloan, eine große, kühle Blondine von der Upper East Side, hatte Regina schon in den Bewerbungsgesprächen eingeschüchtert, und irgendwie hatte sich das noch verschlimmert, seit sie den Job hatte.
»Wollen Sie sich auf unserem Rundgang denn gar keine Notizen machen?«, fragte Sloan. Hastig öffnete Regina ihre Tasche und kramte Papier und Stift hervor.
Sie folgte Sloan durch einen marmornen Gang, der sie in seiner fränkisch-römischen Anmutung immer an die Bilder europäischer Prachtbauten erinnerte. Aber Reginas Vater hatte ihr oft gesagt, dass sich das Hauptgebäude der New York Public Library mit nichts vergleichen ließ. Als Bauwerk war es einzigartig.
»Und das ist der öffentliche Katalogsaal«, erklärte Sloan. Der weitläufige Saal hieß offiziell »Bill Blass Public Catalogue Room«. Hier standen lange Reihen niedriger Tische aus dunklem Holz, bestückt mit den Bibliothekslampen, die allesamt bronzefarbene Metallschirme zierten. Die Computer schienen deplatziert an diesem Ort, der wie ein Relikt aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert wirkte. »Diese Computer haben keinen Internetzugang.« Sloan leierte ihre Ausführungen, die sie zweifelsohne schon unzählige Male gehalten hatte, gelangweilt herunter. »Sie dienen einzig der Büchersuche und liefern den Besuchern Informationen wie Signatur und Verfügbarkeit.«
Selbstverständlich kannte Regina dieses System so gut wie kaum etwas anderes. (Sie hatte eine Leidenschaft für gute Systeme. Nichts schien ihr erstrebenswerter als Ordnung.) Die Besucher riefen die gesuchten Bücher im Computer auf und notierten Titel und Signatur mit kleinen Bleistiften, die in Bechern an den Tischenden bereitstanden, auf Zetteln. Für Regina hatte es etwas Tröstliches, dass man in der New York Public Library im Zeitalter von SMS und E-Mail noch Stift und Papier zur Hand nehmen musste.
Sloan ging weiter, und ihre hohen Pfennigabsätze klapperten auf dem Marmorboden. Sie trug ihr glattes Haar zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden und war von Kopf bis Fuß in Ralph Lauren gekleidet. Und genauso wie Reginas Mitbewohnerin musterte auch Sloan Caldwell sie von oben bis unten und konnte ihr Urteil kaum verhehlen: falsch, falsch, ganz falsch. Regina fragte sich, ob es in Manhattan einen geheimen Dresscode gab, den alle außer ihr kannten. Seit sie in die Stadt gezogen war, kam sie sich vor wie eine der Außerirdischen in
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