Die Macht der Disziplin
Jahrhundert verwendet heute kaum jemand mehr. Aber was bedeutet es, dass jemand seine Willenskraft einsetzt? Handelt es sich dabei nur um eine Metapher, oder steckt mehr dahinter?
Auf der Suche nach einer Antwort beginnen wir bei ofenfrischen Plätzchen.
Was Radieschen mit Disziplin zu tun haben
Sozialwissenschaftler müssen sich manchmal gemeine Experimente ausdenken. In einer Versuchsanordnung durften Testpersonen den ganzen Tag über nichts essen und hatten hungrig in Baumeisters Laborzu kommen. Im Raum duftete es nach ofenfrischen Plätzchen. Die Versuchspersonen mussten sich an einen Tisch setzen, auf dem drei Schüsseln standen: eine mit warmen Plätzchen, eine andere mit Schokolade und eine dritte mit Radieschen. Einige Teilnehmer durften Plätzchen und Schokolade essen, aber andere mussten sich mit den Radieschen begnügen. 25
Um die Versuchung noch zu vergrößern, ließen die Wissenschaftler die Testpersonen mit den Schüsseln allein und beobachteten sie durch ein kleines, verstecktes Fenster. Die Radieschenesser rangen mit der Versuchung. Einige beäugten die Plätzchen sehnsüchtig und bissen dann widerwillig in ein Radieschen. Andere nahmen ein Plätzchen in die Hand, rochen daran und sogen den Duft ein. Dem einen oder anderen fiel das Plätzchen dabei aus der Hand, und sie hoben es rasch auf und legten es zurück, damit niemand etwas bemerkte. Aber niemand wagte es, die verbotenen Plätzchen zu essen. Sie widerstanden der Versuchung, wenn auch oft unter erheblichen Anstrengungen. So weit, so gut. Das Experiment ergab also, dass die Plätzchen wirklich eine Versuchung darstellten und dass die Teilnehmer ihre ganze Willenskraft aufbieten mussten, um ihnen zu widerstehen.
Dann wurden die Versuchspersonen in einen anderen Raum gebracht, um dort Geometrieaufgaben zu lösen. Die Teilnehmer dachten, es handele sich um eine Art Intelligenztest, doch in Wirklichkeit waren die Aufgaben nicht lösbar. Die Übung diente lediglich dazu festzustellen, wie lange sie sich damit beschäftigen würden, ehe sie das Handtuch warfen. Dies ist ein klassisches Experiment, das Psychologen seit Jahrzehnten verwenden, da es einen verlässlichen Anhaltspunkt für die Ausdauer eines Menschen bietet. (Andere Experimente haben beispielsweise ergeben, dass jemand, der sich länger an diesen nicht zu lösenden Aufgaben abarbeitet, auch mehr Zeit auf tatsächlich lösbare Aufgaben verwendet.)
Diejenigen Teilnehmer, die Plätzchen oder Schokolade essen durften, tüftelten im Durchschnitt zwanzig Minuten lang an den Aufgaben, genau wie eine Kontrollgruppe, die ebenfalls hungrig ins Laborgekommen war und nichts zu essen bekommen hatte. Doch die Radieschenesser, die mit der Versuchung gerungen hatten, gaben bereits nach acht Minuten auf – in Experimenten wie diesen ist das ein gewaltiger Unterschied. Sie hatten der Versuchung der Plätzchen und der Schokolade widerstanden, aber danach besaßen sie offenbar nicht mehr genug Energie, um an den Aufgaben zu knobeln. An der alten Vorstellung von der Willenskraft schien also tatsächlich etwas dran zu sein.
Die Willenskraft war offenbar mehr als eine bloße Metapher. Sie schien eher so etwas wie ein Muskel zu sein, der bei Benutzung ermüdet, wie Shakespeares Troilus ganz richtig erkennt. Der trojanische Krieger Troilus fürchtet, dass seine Geliebte Cressida dem Charme seiner griechischen Feinde erliegen wird; zwar glaubt er ihr, dass sie ihm treu bleiben will, doch ist er besorgt, dass sie dem Druck nicht standhalten werde. Es sei unklug anzunehmen, dass unsere Vorsätze gleich stark blieben, erklärt er Cressida und warnt sie davor, was passiert, wenn sie schwach werde: »Doch oft geschieht uns, was wir nicht gewollt.« Und so kommt es denn auch wie von Troilus befürchtet, und Cressida verliebt sich in einen griechischen Krieger.
Die von Troilus beschriebene »wandelbare Kraft« des Willens ließ sich auch bei den Versuchungspersonen beobachten, die der Verlockung der Plätzchen widerstehen mussten. Dieser Effekt, der im Radieschen-Experiment und in anderen Versuchen nachgewiesen worden war, leuchtete vielen klinischen Psychologen ein, so auch Don Baucom, einem Paartherapeuten aus Chapel Hill im US-Bundesstaat North Carolina. Seiner Ansicht nach lieferten Baumeisters Erkenntnisse eine Erklärung für Dinge, die er in seiner Praxis beobachtet, aber nicht vollends verstanden hatte. Wieder und wieder hatte er gesehen, dass Ehen darunter litten, dass sich die berufstätigen Partner
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