Die Macht der Disziplin
gehört?
Trotzdem war Freud mit seiner Vorstellung der Energie auf einer interessanten Spur. Energie ist ein wichtiges Element, um die sexuellen Aktivitäten in Künstlerkolonien zu verstehen. Die Unterdrückung von sexuellen Impulsen erfordert Energie, genau wie kreative Arbeit. Wer seine ganze Energie in seine Kunst investiert, hat keine mehr übrig, um seine Libido zu zügeln. Freud erklärte nie, woher diese Energie genau stammen sollte und wie sie funktionierte, doch sie nahm eine zentrale Rolle in seiner Theorie des Ich ein. Als Verbeugung in Richtung des Vaters der Psychoanalyse und in Anlehnung an dessen Begriff des »Ich« griff Baumeister auf das Wort »Ego« zurück. So wurde der Begriff der »Ego-Depletion« oder »Selbsterschöpfung« geprägt, mit dem Baumeister unsere schwindende Fähigkeit bezeichnet, unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen zu regulieren. Wir sind zwar gelegentlich in der Lage, unsere geistige Erschöpfung zu überwinden, aber wenn wir unsere Willenskraft ausgeschöpft haben (zum Beispiel indem wir Entscheidungen getroffen haben, die ebenfalls zu Selbsterschöpfung führen, wie wir noch sehen werden), geben wir früher oder später nach. Der Begriff der Ego-Depletion gehört heute zum festen Repertoire der Sozialpsychologen und wird verwendet, um eine ganze Reihe von Verhaltensweisen zu erklären.
Um herauszufinden, was bei der Ego-Erschöpfung im Gehirn passiert, setzten die beide Wissenschaftler Michael Inzlicht und Jennifer Gutsell 28 von der University of Toronto ihren Versuchspersonen eine Art mit Elektroden bestückte Badekappe auf. Damit zeichneten sie die elektrische Aktivität im Gehirn auf und erstellten sogenannte Elektroenzephalogramme (EEGs). Damit konnten sie zwar keine Gedanken lesen, jedoch grob nachvollziehen, wie das Gehirn mit bestimmten Problemen umgeht. Vor allem interessierten sich die Wissenschaftler für eine Region mit dem Namen Präfrontaler Kortex, der einenAbgleich herstellt zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir tun sollten; das heißt, diese Region erkennt, wenn irgendwo Widersprüche oder Fehler auftreten. Beispielsweise löst sie Alarm aus, wenn Sie in der einen Hand einen Hamburger halten und in der anderen ein Handy – und in Ihr Handy beißen wollen. Dieser Alarm ist nichts anderes als ein verstärktes elektrisches Signal.
Mit der Badekappe auf dem Kopf sahen die Versuchspersonen erschütternde Filmausschnitte von leidenden und sterbenden Tieren. Die Hälfte der Teilnehmer sollte ihre Gefühle unterdrücken und erlebte dadurch die beschriebene Ego-Erschöpfung. Die andere Hälfte erhielt keine Anweisungen. Dann nahmen die Probanden an einem zweiten Versuch teil, einem klassischen Stroop-Test (benannt nach dem Psychologen James Stroop), in dem sie sagen müssen, in welcher Farbe eine Reihe von Buchstaben gedruckt ist. Wenn Sie beispielsweise eine Reihe von roten xxx sehen, lautet die Antwort »rot«. Das klingt einfach. Aber wenn Sie plötzlich das Wort »grün« in roten Buchstaben vor sich haben, ist eine zusätzliche Anstrengung erforderlich. Sie müssen den spontanen Impuls unterdrücken, das Wort »grün« zu lesen, sondern sich dazu zwingen, die Farbe der Buchstaben zu erkennen und schließlich »rot« zu sagen. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass diese gedankliche Operation mehr Zeit in Anspruch nimmt. Während des Kalten Krieges verwendeten die amerikanischen Geheimdienste den Stroop-Test, um Doppelagenten zu enttarnen: Wer behauptete, kein Russisch zu sprechen, durfte beim Anblick russischer Farbwörter nicht länger brauchen.
In dem EEG-Experiment benötigten Versuchspersonen, deren Willenskraft bereits durch andere Übungen ermüdet war, noch einmal länger, um die Farbe richtig zu benennen, und sie machten mehr Fehler. Das EEG verriet erkennbar trägere Reaktionen in der für die Beobachtung von Konflikten zuständigen Hirnregion: Bei Fehlern läuteten die Alarmglocken offenbar leiser. Die Ego-Erschöpfung verlangsamt den Präfrontalen Kortex, der für die Selbstregulation entscheidend ist. Das Gehirn reagiert langsamer, die Sensibilität für Fehler schwindet,und wir haben Schwierigkeiten, unsere Reaktionen zu kontrollieren. Aufgaben, die wir sonst spielend erledigen, kosten uns mit einem Mal größere Mühe.
Dass die Ego-Erschöpfung die Aktivität der neuronalen Schaltkreise verlangsamt, mag für Neurologen interessant sein, aber für uns Normalsterbliche wäre es nützlicher sie zu erkennen, ohne uns selbst in den Kopf
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