Gefesselte Lust
In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so unwohl gefühlt wie heute. Der Rock, der gestern noch umwerfend an mir ausgesehen hat, erscheint mir plötzlich altbacken und viel zu lang, der Blazer zu groß, und von der Bluse darunter will ich gar nicht erst anfangen. Außerdem sitzt meine Frisur nicht mehr, und mein Make-up läuft mir gerade in einer Welle aus Schweiß das Gesicht herunter.
Natürlich bin ich hier die Einzige mit diesem Problem. Die anderen Frauen, die in der Redaktion arbeiten, tragen ihre ultrakurzen Röcke, die wie breite Gürtel aussehen, mit umwerfender Eleganz. Ebenso wie ihre engen Blazerchen, unter denen sich keine einzige Speckrolle abzeichnet. Von denen ist mit Sicherheit keine einzige geschminkt – jede von ihnen steht morgens mit diesem makellosen Gesicht auf und ist den ganzen Tag über frisch wie der Frühling.
Ganz anders als ich. Obwohl ich in Berlin geboren bin, habe ich fast meine gesamte Schulzeit und die Studienjahre in einem kleinen Kaff in Niederbayern verbracht. Und so komme ich mir in diesem Augenblick auch vor; wie eine Landpomeranze, die das erste Mal Stadtluft schnuppern darf. Kurz: Ich schäme mich wegen meines Outfits in Grund und Boden. Und das ausgerechnet an meinem ersten Arbeitstag in einer der angesagten Redaktionen Berlins.
Pünktlich um neun Uhr traf ich im Verlagsgebäude ein und befinde mich seitdem im Foyer. Hier hat mich eine dieser perfekten Frauen geparkt, und hier warte ich nun auf meinen Termin mit meinem zukünftigen Boss, Jonah Winter. Seit zwanzig Minuten stehe ich nun schon in dem modernen Empfangsbereich herum, und meine Handflächen werden immer nasser.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre auf den Titel des Magazins, der in großen gebürsteten Stahllettern an der Wand prangt: B-Touch.
Ein Gefühl des Stolzes macht sich in mir breit und verdrängt für einen Moment die Nervosität. Ich darf für B-Touch arbeiten, mein erster richtiger Job als Journalistin – und das gleich in so einer Redaktion!
Eigentlich habe ich nach meiner Bewerbung nicht einmal damit gerechnet, überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, aber zu meiner Überraschung erhielt ich nicht mal zwei Wochen später das Angebot, nach Berlin zu kommen.
Das ist der einzige Wermutstropfen an der Geschichte. B-Touch unterhält Redaktionen in München und Frankfurt, sowie in London. Die Stelle war ohne Ortsangabe ausgeschrieben, und ich habe auch nur durch Zufall davon erfahren. Mein Ausbilder im Volontariat hat mich darauf aufmerksam gemacht. Er war der Meinung, dass ich endlich in einer größeren Redaktion unterkommen soll, denn in unserem kleinen Gemeindeblatt kann man nun mal keine nennenswerte Karriere machen. Und so habe ich mich auf die Anzeige hin beworben. Dass es ausgerechnet Berlin werden würde, habe ich nicht geahnt. Von allen Städten dieser Welt muss es ausgerechnet Berlin sein! Und das, obwohl ich mir damals geschworen habe, diese Stadt nie wieder zu betreten. Nicht, seit …
»Herr Winter ist jetzt fertig mit seinem Meeting. Folgen Sie mir bitte.«
Aus meinen Gedanken gerissen, weiß ich erst nicht, mit wem der langbeinige Männertraum eigentlich spricht, bis mir klar wird, dass ich die einzige andere Person im Foyer war. Ich räuspere mich verlegen. »Oh … ja.«
Sie dreht sich um, wobei ihr die langen tiefschwarzen Locken in einer perfekten Bewegung über die Schulter fließen und eine Wolke von sündhaft teurem Parfum mit sich tragen. Mir sinkt das Herz in die Hose. Ich bin wirklich hoffnungslos underdressed und garantiert der einzige Trampel hier.
Die schwarz gelockte Elfe führt mich aus dem Foyer durch das Großraumbüro, in das ich schon die ganze Zeit schauen konnte. Vom Foyer aus habe ich nur einige wenige Schreibtische gesehen, doch als wir das Büro durchqueren, bemerke ich auch größere Tische, an denen mehrere Leute sitzen, die hitzig diskutieren.
Überall stehen iMacs, die übersät sind mit Klebezetteln verschiedenster Farben. An den Wänden hängen, neben Kunstdrucken, die ich nicht zuordnen kann, große Schreibtafeln, auf denen sich Themen, Stichworte und Deadlines drängen. Überall klingeln Telefone, und einige der Männer und Frauen haben ihre Smartphones am Ohr oder tippen darauf herum, während sie ihre überteuerten Computer bedienen.
Absolut kein Vergleich zu meiner Volontariatsstelle. Dort ist es eher gemütlich zugegangen. Selbst die Redaktionskonferenzen am Freitag bestanden aus den fünf
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