Die Macht des Zweifels
würde ich es nicht zugeben.
Sie hebt mich hoch und setzt mich auf ihre Schultern. »Den Teich«, sagt sie. »Kannst du den Teich sehen?«
Von hier oben aus kann ich es. Er ist ein Stück Himmel, das am Boden liegt.
Wenn der Himmel zerbricht, wer macht ihn dann wieder ganz?
1
SchluÃplädoyers waren schon immer meine Spezialität.
Ich kann, ohne mir vorher viel zurechtgelegt zu haben, in einen Gerichtssaal marschieren und eine Rede halten, nach der die Geschworenen förmlich nach Gerechtigkeit schreien. Offene Fragen machen mich wahnsinnig.
Heute morgen habe ich ein SchluÃplädoyer in einem Vergewaltigungsprozeà und eine Anhörung zur Feststellung der Verhandlungsfähigkeit. Am Nachmittag habe ich einen Termin bei einem DNA -Spezialisten, es geht um Gehirnmasse, die in einem Autowrack gefunden wurde und weder dem betrunkenen Fahrer gehört, der jetzt wegen fahrlässiger Tötung angeklagt ist, noch der Beifahrerin, die bei dem Unfall ums Leben kam. All das schieÃt mir durch den Kopf, als Caleb den Kopf ins Badezimmer steckt. »Wie gehtâs Nathaniel?«
Ich drehe das Wasser ab und wickle mir ein Handtuch um den Körper. »Schläft«, sage ich.
Caleb war drauÃen in seinem Schuppen und hat den Pickup beladen. Er macht Steinmetzarbeiten â Gartenwege, Kamine, Granittreppen, Mauern. Er riecht nach Winter, ein Geruch, der immer zu der Zeit nach Maine kommt, wenn die Ãpfel erntereif sind. Auf seinem Flanellhemd sind Streifen von dem Staub, der an Zementsäcken haftet. »Was macht sein Fieber?« fragt Caleb und wäscht sich die Hände.
»Besser«, antworte ich, obwohl ich heute morgen noch gar nicht nach meinem Sohn gesehen habe.
Ich hoffe, daà es wahr wird, wenn ich es mir nur ganz fest wünsche. So krank war Nathaniel gestern abend schlieÃlich gar nicht, und er hatte nur erhöhte Temperatur, keine 38 Grad. Er war nicht ganz auf dem Posten, aber das allein würde mich nicht davon abhalten, ihn in die Vorschule zu schicken â schon gar nicht an einem Tag, an dem ich ins Gericht muÃ. Jede berufstätige Mutter kennt das Dilemma. In der Familie kann ich wegen meines Berufes nicht hundert Prozent geben, und wegen meiner Familie kann ich im Beruf nicht hundert Prozent geben. Und ich lebe in ständiger Angst davor, daà die beiden Welten wieder einmal kollidieren.
»Ich würde ja hierbleiben, aber ich muà unbedingt zu der Besprechung. Fred hat die Kunden bestellt, damit sie sich die Pläne ansehen, und wir müssen eine gute Vorstellung liefern.« Caleb blickt auf die Uhr und stöhnt. »Ich komme jetzt schon zehn Minuten zu spät.« Sein Tag beginnt früh und endet früh, wie bei den meisten selbständigen Handwerkern. Das bedeutet, daà ich Nathaniel meistens zur Schule bringe und Caleb ihn abholt. Er greift nach seiner Baseballmütze. »Du bringst ihn doch nicht zur Schule, wenn er wirklich krank ist â¦Â«
»Natürlich nicht«, sage ich, aber unter dem Ausschnitt meiner Bluse wird mir warm. Mit zwei Aspirin kann ich Zeit schinden. Dann könnte ich den Vergewaltigungsfall abschlieÃen, ehe der Anruf von Miss Lydia kommt, daà ich meinen Sohn abholen soll. Ich hasse mich für diesen Gedanken.
» Nina .« Caleb legt seine groÃen Hände auf meine Schultern. Wegen dieser Hände habe ich mich in Caleb verliebt. Sie können mich berühren, als sei ich eine Seifenblase, und sie sind dennoch stark genug, um mich festzuhalten, wenn ich auseinanderzubrechen drohe.
Ich lege meine Hände auf die Calebs. »Er schafft das schon«, beteuere ich. Ich schenke ihm mein Staatsanwältinnenlächeln, das vor allem überzeugen soll. »Wir schaffen das schon.«
Caleb nimmt sich Zeit, ehe er bereit ist, das zu glauben. Er ist ein kluger Mann, aber er ist methodisch und vorsichtig. Er bringt ein Projekt immer erst mit gründlicher Sorgfalt zu Ende, ehe er sich dem nächsten zuwendet, und seine Entscheidungen trifft er auf die gleiche Art. Seit sieben Jahren hoffe ich nun schon, daà etwas von seiner Bedächtigkeit auf mich abfärbt, wo ich doch jede Nacht neben ihm liege.
»Ich hole Nathaniel dann um halb fünf ab«, sagt Caleb, ein Satz, der in der Sprache von Eltern soviel wie Ich liebe dich bedeutet.
Ich spüre seine Lippen über meinen Scheitel streichen, während ich den Verschluà an meinem Rock zumache. »Ich bin um
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